Den Kran, sagt Michael Zinganel und deutet auf eine Asphaltfläche neben überwucherten Gleisen, gibt es nicht mehr. Bis 2017 wurden hier Güter verladen, dann wurde das Metallungetüm zerlegt und vom neuen Besitzer über die Donau nach Serbien verschifft. Es ist eine von vielen Geschichten, die sich hier am Wiener Nordwestbahnhof erzählen lassen. Nicht wenige davon haben mit der Donau zu tun, und Michael Zinganel kennt sie alle. Seit 2015 ist der Architekt hier mit seinem Kollegen Michael Hieslmair unter dem Namen Tracing Spaces zugange. Sie suchten einen Raum für ein Forschungsprojekt und fanden ihn.

Wo heute die Aktion "Fischgeschichten" an verschüttete Donauarme unter den Gleisen erinnert...
Foto: Tracing Spaces

Ein richtiger Bahnhof ist das 44 Hektar große Areal nicht mehr, aber ein Ort des Ankommens und Verteilens. Sattelschlepper kurven wie im Ballett umeinander, in einer scheinbar endlos langen Halle, einem in Wien einzigartigen Raum, werden Waren verladen, geredet wird in einem Dutzend Sprachen, ein paar Meter weiter herrscht postindustrielle Stille, entlang der geraden Gleise geht der Blick auf Kahlen- und Leopoldsberg. "Nachdem wir ohnehin schon zu transnationaler Logistik gearbeitet hatten, hat uns der Ort hier interessiert", erzählt Zinganel. "Wir haben eher nebenbei begonnen, Wissen darüber zusammenzutragen und mit den Experten des Alltags zu sprechen, solange sie noch hier sind."

Fischgeschichten

Entstanden auf dem Areal eines im Zuge der Donauregulierung der 1870er-Jahre zugeschütteten Flussarms, war der Nordwestbahnhof einer von drei konkurrierenden Transportknoten, die die Vielvölkerhauptstadt mit Stoff aller Art versorgten. Am benachbarten Nordbahnhof kamen Kohle und Stahl aus Ostrau an, am Franz-Josefs-Bahnhof landwirtschaftliche Produkte aus dem westlichen Böhmen und hier Braunkohle, Zucker und Keramik. 1910 wurde die Nordwestbahn verstaatlicht, 1924 der Personenverkehr eingestellt, nach dem Krieg wurde das schwerbeschädigte Empfangsgebäude gesprengt. Es blieb der Güterverkehr, bis ihn das neue Containerterminal in Inzersdorf überflüssig machte.

...wird in Zukunft ein Quartier für rund 15.000 Menschen entstehen.
Foto: ÖBB / enf Architekten

Seitdem hat sich hier neben den Speditionen eine Fülle an Kleinstbetrieben und informellem Handel auf den Brachen angesiedelt. Ganz hinten am westlichen Ende steht ein Schwarm weißer Fische im Schotter. Eine der vielen kleinen Spuren, die Tracing Spaces inzwischen hinterlassen haben: 2020 wurde hier mit "Fischgeschichten" an die begrabene Donau und an Wiens historisches Verhältnis mit Fischen aller Art erinnert. Im Jahr zuvor wurde das Stationentheater Nordwestpassage aufgeführt.

In diesen Tagen wird mit "Excavations from the darkest past" an das schwarze Kapitel des Ortes erinnert: Im April 1938, wenige Wochen nach dem sogenannten "Anschluss", wurde in der Bahnhofshalle die Propagandaausstellung Der ewige Jude gezeigt. Hieslmair und Zinganel rekonstruierten die Umrisse der Ausstellung am Boden, am 12. November wird es eine Führung und eine Podiumsdiskussion geben.

Alles Neubau?

Die Aktionsbasis der beiden befindet sich im Keller eines unscheinbaren Gebäudes, wo das von ihnen eingerichtete Nordwestbahnhof-Museum betont unelitär ein stetig anwachsendes Konzentrat aller Geschichten und Pläne, bietet. Ein Stockwerk weiter oben zeigen die ÖBB in einer Ausstellung die Zukunft des Areals, einen Halbstock weiter die Stadt Wien in einer Art Konkurrenzausstellung dasselbe.

Das städtebauliche Leitbild für die Neubebauung wurde von 2005 bis 2008 entwickelt und 2016 überarbeitet und beschlossen: 6500 Wohnungen, 4000 Arbeitsplätze, Schulen und Kindergärten, Supermärkte und ein langgestreckter Park (die "Esplanade") in der Mitte, autofrei gequert. Gebaut werden soll in vier Phasen von 2024 bis 2033, die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) läuft derzeit. "Wir erwarten den Bescheid zur UVP im zweiten Quartal 2022 und gehen davon aus, dass unsere Umweltverträglichkeitserklärung positiv beschieden wird," heißt es vonseiten der ÖBB zum ΔTANDARD. Zwei der alten Backsteinbauten sollen erhalten bleiben, die Nutzung ist noch offen.

Das werden die einzigen überlebenden Spuren der Geschichte sein, denn dort, wo heute Geschichten und Waren zirkulieren, wird dann gewohnt, eingekauft, dekorativ in Cafés und auf Wiesen gesessen. So weit, so brav, so Neubau. Reicht das? Oder braucht es auch ungeschönte Orte der Produktion, der Verarbeitung, Orte, an denen Dinge und Menschen ankommen, bevor sie ihren Platz in der Stadt finden? Freiräume, die noch nicht genau definiert sind, die ruhig auch nervös machen können? Internationale Beispiele, wie man den Wildwuchs einer Bahnbrache atmosphärisch in die Zukunft hinüberretten kann, gibt es, wie der gelungene Park am Gleisdreieck in Berlin zeigt.

Schon hat die Kreativszene das Areal entdeckt: Die Vienna Design Week und das Urbanize-Festival waren zu Gast, das Theater Brut hat hier sein Zwischenquartier. Doch die Wiener Stadtplanung liebt die Tabula rasa und tut sich schwer mit Zwischennutzungen, das zeigen die unglücklich verlaufene Geschichte der Nordbahnhalle und die auf ein paar Ziegelwände reduzierte Gösserhalle.

"Wir wollen der Bedeutung eines Güterverkehrsknotens und den Schlüsselarbeitskräften urbaner Ver- und Entsorgung Respekt erweisen", sagt Michael Zinganel. "Wir wollen die Geschichte eines vergessenen Ortes freilegen und vermitteln, inklusive der Zwischennutzungen von Akteuren außerhalb des Kreativmilieus, nämlich von Menschen am unteren Ende der Nahrungskette in der Logistikbranche." Logistik wird auch die Stadt von morgen brauchen, und zwar nicht nur draußen am Rand. (Maik Novotny, 06.11.2021)