Jetzt werde die Rendite guter Unternehmenskultur eingefahren, sagt Markus Tomaschitz.
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Der Automobilzulieferer AVL List mit weltweit rund 11.000 Mitarbeitern und etwa 1,7 Milliarden Euro Umsatz steht im Zentrum vielfacher Umbrüche und damit auch im Zentrum des Wandels hin zu grüner Mobilität. Personalchef Markus Tomaschitz zur Lage.

STANDARD: Unternehmen befinden sich im "perfekten Sturm", sagen Sie. Was ist gemeint?

Tomaschitz: Wir haben große transformatorische Schritte zu bewältigen. Die globalen Lieferketten sind aus dem Takt geraten. Und gleichzeitig haben wir ein Problem auf dem Arbeitsmarkt wie noch nie zuvor in der Geschichte dieser Republik. Es kommt einfach alles zusammen. Mangel und Inflation.

STANDARD: Die Generation Babyboomer geht in Pension, und das Verständnis von Arbeit wandelt sich ja auch gerade massiv.

Tomaschitz: Ja. In Kombination ist das ein Drama: Demografisch betrachtet haben wir nun mehr Menschen im Alter 64 plus als Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64. Es wurden Berufsbildung und Berufsorientierung vernachlässigt. Schüler kennen keine Berufe, und was jemand nicht kennt, wählt er oder sie nicht. Was Junge lernen oder gelernt haben, ist nicht das, was Unternehmen brauchen, und wir routen zu viele junge Menschen via AHS zur Matura. Wir bräuchten viel, viel mehr Lehrlinge. Die Forderung der OECD nach Erhöhung der Akademikerquote haben wir falsch verstanden, weil wir unter anderem unsere berufsbildenden höheren Schulen vergessen haben. Stattdessen akademisieren wir Ausbildungen mit sehr fragwürdigem Effekt. Wir gehen in sehr schwierige Zeiten.

STANDARD: Spielt die Automatisierung nicht gegen diesen Mangeltrend?

Tomaschitz: Es lässt sich nicht alles automatisieren. Ich halte die Situation für dramatisch, wie gesagt. Es sind Arbeitsplätze in Österreich auf Sicht nicht mehr zu besetzen. Zuwanderung allein wird das nicht abdecken können – auch ungeachtet der großen Qualifizierungsanstrengungen, die diese mit sich bringt. Wir müssen uns trotzdem bei der Zuwanderung etwas überlegen: generöser sein bei der Anrechnung von Ausbildungen und neue Zugangssysteme entwickeln abseits von Punktesystemen und Rot-Weiß-Rot-Card. Tatsächlich bleibt aber im Wesentlichen Auslagern oder Automatisieren.

STANDARD: Der Tanker Bildungssystem ist nur langsam zu steuern. Aber mehr Lehrlinge: Da sind doch die Firmen in der Pflicht. Vielleicht sollten Lehrausbildungen, bei denen 15-Jährige 40 Stunden in Unternehmen und Berufsschule pro Woche sitzen, anders gedacht werden?

Tomaschitz: Ja, Lehre muss eine andere, kreativere Form des Arbeitens sein. In vielen Betrieben ist das ja auch schon so.

"Ob wir das hinkriegen als Unternehmen, als Gesellschaft? Ich glaube, das ist noch nicht entschieden" – Markus Tomaschitz

STANDARD: Arbeit scheint sich jetzt generell eher dem Leben anpassen zu müssen als umgekehrt, wie all die Jahrzehnte davor. Spüren Sie das neue Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer und den Wunsch nach weniger Arbeit, anderer Arbeit?

Tomaschitz: Sehr viele Menschen haben nach 19 Monaten Pandemie einen anderen Zugang zu Arbeit. Sehr viele Leute wollen nach Homeoffice und Kurzarbeit nicht mehr zurück in ihre Arbeitssituation vor Corona. Da ist etwas verrutscht. Wir werden uns sehr viel überlegen müssen, um das hinzubekommen, dass Menschen plötzlich keine 40-Stunden-Woche mehr arbeiten wollen, sondern 30, manchmal sogar nur 20 Stunden. Das sind teilweise Menschen, die vor der Pandemie unsere absoluten Leistungsträger waren.

STANDARD: Bekommen Sie das hin, Arbeit so umzugestalten, dass sie zu den gegenwärtigen – oder sogar künftigen – Lebensansprüchen passt, noch dazu, wo sowieso Mangel an Fachleuten besteht und wir auch in Österreich einen Bewerbermarkt sehen, nicht mehr Firmen diktieren und beliebig sortieren können?

Tomaschitz: Wie lösen wir das auf? Jedenfalls werden wir uns sehr anstrengen müssen. Wenn Sie mich jetzt fragen, ob wir das hinbekommen als Unternehmer, als Gesellschaft? Ich glaube, das ist noch nicht entschieden. Grundsätzlich bin ich überzeugt davon, dass jetzt jene Unternehmen die Rendite einfahren, die eine gute Unternehmenskultur, also eine Balance zwischen Geben und Nehmen, hatten. Wer Mitarbeiter als Kosten auf zwei Beinen betrachtet hat, wird ein Problem haben, denn da werden die Leute weder bleiben noch hingehen. Kreative Methoden zur Mitarbeitergewinnung und -bindung sind jedenfalls angesagt.

STANDARD: Bringen die angedachten Verschärfungen – etwa degressives Arbeitslosengeld – etwas?

Tomaschitz: Nicht als Einzelmaßnahme, aber teilweise, bei vielleicht 15 Prozent bewirkt das ein Umdenken, ob sich das mit Arbeitslosengeld plus ein bisschen Nachbarschaftshilfe ausgeht. (Karin Bauer, 9.11.2021)