Mit Hakenkreuzbinde und Peitsche treibt Jonathan Meese im Volkstheater seine Performer an: Der Kunstdiktator schont sich allerdings auch selbst nicht.

Foto: Marcel Urlaub/Volkstheater

Sein Chaos hat Methode. Es speist sich aus der Populärkultur genauso wie aus der weiten Welt der stramm-deutschen Mythen. Und dann fischt Jonathan Meese natürlich auch noch aus dem Pool der eigenen Neurosen. Wenn alles gutgeht, fügen sich die widerspenstigen Elemente in den herrlichsten Wahnsinn.

Am Wiener Volkstheater geht alles gut. Nach langer Vorlaufzeit und einer kurz vor der Pandemie in Dortmund stattgefundenen Premiere hievt der deutsche Künstlerschreck jetzt seine neueste Theaterarbeit in überarbeiteter Gestalt auf die Bühne am Weghuberpark. Sie ist Vladimir Nabokovs Altherrenfantasie Lolita gewidmet – zumindest im Titel, der in der Kurzversion Kampf-L.O.L.I.T.A heißt. Aber natürlich hätte die Überschrift, wie meist bei Meese, auch ganz anders lauten können. Irgendetwas mit Parsifal oder den Mumins, infrage käme auch die Frau Mama oder der Herr Hitler. Schlagwörter, oder besser Schlagsätze, haben es dem sanften Rabauken angetan.

Wunden der Geschichte

Ob auf der Leinwand oder Bühne: Sie sind Teil seiner Kunst und prasseln auf das Publikum mit einem Furor nieder, wie er griechischen Erinnyen eigen ist. Von Rachegedanken ist auch Meese beseelt: Da ist die noch immer schwärende Wunde, die ihm die Absage des Bayreuther Parsifal bescherte, und da sind natürlich die Wunden der deutschen Geschichte und Gerichte, vor denen er sich wegen seines gereckten Arms verantworten musste.

"Ich mag das nicht", spricht die Frau Mama aus dem Bühnen-Off, wenn Meese wieder einmal zum Hitlergruß strammsteht. Belastet ist auch das Verhältnis zur Mutter, wie man aus der Karriere des inzwischen 51-jährigen Meese weiß. Mami Meese macht dennoch den Anfang des Abends, indem sie über Video den Wikipedia-Eintrag von Nabokovs Roman vorliest. Auch das Ende gehört der betagten Frau, diesmal darf sie sogar leibhaftig und im schönsten deutschen Rentner-Outfit auf die aufgeräumte Bühne.

Mordende Nymphe

In den drei Stunden zuvor hatte es dort oben noch etwas anders ausgeschaut. Links flimmert Der Fan, in dem Désirée Nosbusch eine mordende Nymphe gibt, rechts hantelt sich der nackige Sean Connery in Zardoz durch die Mythenwelt der Zukunft. Die beiden Filme liefern den Resonanzraum für die atemlose und zutiefst anarchische Nummernrevue, die Meese mit seinen fünf Getreuen veranstaltet.

Jeder Abend folgt seinen eigenen, wahrscheinlich ungeschriebenen Regeln. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass am Premierenabend Martin Wuttke statt Bernhard Schütz auftrat (dieser steht im Jänner auf der Bühne), und die Dramaturgie des Abends aus dem wiederholten Abspielen einiger weniger Lieder besteht.

Langweilig wird es dennoch nicht, wie bei einem Palimpsest überlagern sich bei Meese immer mehrere, immer neu gemischte Ebenen. Sabrinas Boys Boys Boys wird dann von der Textzeile "Deutsch deutsch deutsch" überlagert, aus Udo Jürgens griechischem wird ein deutscher Wein, aus Alizées Moi... Lolita eine Ode an die Mutti. Womit erst einmal nur die Textebene beschrieben ist.

Zusammengemantscht

Wie bei Meeses zusammengemantschten Bildern, die immer wieder aus dem Schnürboden fahren, stoppelt der Künstler mit der zur Trademark gewordenen Adidas-Jacke auf der Bühne Pop und Mythen zusammen. Das Prinzip heißt Überforderung, manch einer spricht wohl lieber von Exzess. Orchestriert wird dieser von Meese mit Hakenkreuzbinde und Peitsche selbst.

Momente des Innehaltens oder gar der Ruhe gibt es dabei unter der Fuchtel des Kunstdiktators nicht. Wobei sich der ziemlich eindrucksvolle Performer Meese selbst keinen Moment schont.

Am ärgsten trifft es die großartige Lilith Stangenberg, die wahlweise als Lolita oder Nazibraut das Horst-Wessel-Lied krächzt, bevor sie auf ihrem Schaukelpferd wieder von neuem loslegt. Martin Wuttke hat einen Schenkelklopferauftritt als rheinländische Führer-Braut, Maximilian Brauer spreizt stoisch seine Arschbacken. Beenden muss das Spektakel schließlich Volkstheater-Intendant Kay Voges, Meese hätte wohl noch endlos weitergemacht. So geht Wahnsinnstheater. (Stephan Hilpold, 6.11.2021)