Es ist gesünder, ihr nicht zu nahe zu rücken: die famose Agathe Rouselle in "Titane".

Foto: Stadtkino

Eine knapp bekleidete Frau schwingt auf der Motorhaube eines Musclecars ihre Hüften und ihr Gesäß. Das ist eines der ersten Bilder, das man von Alexia zu sehen bekommt, aber man sollte sich nicht täuschen: Zum Objekt eines begehrenden Blicks macht sie sich damit noch nicht.

Weder einem männlichen Fan noch einer Tanzkollegin gereichen ihre Avancen zum Vorteil. Ein Haarstäbchen spielt dabei keine unwesentliche Rolle. Alexia stößt es dem aufdringlichen Autogrammjäger durch das Ohr tief ins Gehirn, doch auch die weibliche Alternative wird nach längerem Vorspiel ähnlich brüsk abgewiesen.

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Titane von Julia Ducournau hält bereits in den ersten Minuten einige drastische Seherfahrungen bereit. Doch um Horror, wie der diesjährige Goldene-Palme-Gewinner bei den Filmfestspielen Cannes mitunter gelabelt wurde, handelt es sich nicht, zumindest nicht im handelsüblichen Sinn. Es gehe ihr nicht um das strategische Spiel mit Schockmomenten, sagt die 37-jährige Französin gern in Interviews, sondern darum, das Publikum mit seiner eigenen Körperlichkeit zu konfrontieren. Das fühlt sich beim Zuschauen dann auch anders an: Nicht Angst treibt diesen Film um, sondern ein Gefühl des Schmerzes und der unangenehmen Irritation. Ein wenig so, als würde einen der Film mit einer Rasierklinge streicheln.

Dies gelingt mit Körperbildern, zu denen die frühen Gewaltexzesse in Titane eigentlich nur eine theatrale Ouvertüre sind. Wenn sich Alexia, musikalisch begleitet von einem berühmten Italo-Schlager von Caterina Caselli, mordend durch eine Sexparty kämpft, denkt man vielleicht noch an Quentin Tarantino. Doch Ducournau zielt über die politischen Genrerevisionen des US-Regisseurs hinaus. Sie kehrt Ordnungen wie jene von Opfern und Tätern nicht einfach um, sondern treibt Identitätskonzepte gewaltvoll an ihre Grenzen. Jenseits binärer Geschlechtermodelle hält sie nach einem anderen, queeren, nicht so schnell festlegbaren Körper Ausschau. Der Horror resultiert in diesem "Kino der Sensationen" aus einer Passage, der monströsen Verwandlung in ein posthumanes Wesen.

Erogene Zone überm Ohr

Das erste Motiv für diese Metamorphose ist Metall. Alexia trägt seit einem Autounfall als Kind eine Titanplatte im Schädel, die Narbe über ihrem Ohr blieb eine hochempfindsame Stelle. Reagiert sie deshalb auf menschliche Annäherungen so unkontrolliert? Ihre Faszination für metallene Oberflächen hat jedenfalls eindeutig eine libidinöse Seite, die in einem wilden Liebesritt mit einem Cadillac einen denkwürdigen Höhepunkt erlebt.

David Cronenbergs noch stärker fetischorientierte Idee einer Verschmelzung von Fleisch und Metall in Crash (1996) wird in Titane ins Evolutionäre erweitert. Aus der Verbindung soll dieses Mal auch etwas entstehen. Alexias Bauch beginnt sich zu wölben, Motoröl läuft aus ihrem Unterleib aus.

Ducournau hat mit der Newcomerin Agathe Rouselle, die als Model und Autorin gearbeitet hat, eine Darstellerin gefunden, die dieser nicht alltäglichen Mutterschaft äußerst authentisch Ausdruck verleiht; authentisch in der Unbestimmbarkeit, im fluiden, unaufhörlichen Werden, zu dem auch die Idee der Tarnung gehört. Rouselle definiert sich selbst als nonbinär. Im Film wechselt sie auf der Flucht das Geschlecht und wird zu Adrien, einem seit Jahren vermissten Jungen, der ihr nun zu einer Ersatzidentität verhilft. Auch diese Transformation verlangt ihr Schmerzen ab, die uns Ducournau nicht erspart. Bei der Szene, in der sie sich die Nase bricht, muss man an die masochistische Selbstverstümmelung von Fight Club denken, einem Film der späten 1990er-Jahre, der von krisenhafter Männlichkeit erzählt hat.

Agathe Rouselle als Alexia.

Ducournau setzt in Titane schließlich auf ein Bündnis, das seine paradoxe Kraft der Entscheidung verdankt, die augenscheinliche Identität des anderen auszublenden. Soziale Zuschreibungen, biologische Geschlechterrollen, wen kümmert’s! Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade die testosterongeladene Umgebung einer Feuerwehrbrigade zu Alexias/Adriens Nest wird, um ihre/seine Verwandlung zu Ende zu führen. Deren Kommandant ist Vincent, der in Adrien seinen verlorenen Sohn wiedererkennen will. Er entscheidet sich dazu, das zu glauben. Es ist eine Lüge, die sie zusammenschraubt.

Ducournau inszeniert die wachsende Intimität der beiden mit Lust an der Übersteigerung, oft haarscharf am Pathos vorbei. Vincent Lindon, ein bulliger Star des französischen Kinos, wirkt in der Rolle des imaginären Vaters wie ein Gefäß, das jeden Moment platzen könnte. Die aufkeimende Liebe der beiden ist zärtlich, aber auch roh und unerbittlich gegen alles, das sie bedroht.

In Tanzszenen, etwa zur Musik von Future Islands, und ihrer popaffinen New-Wave-Stilisierung löst Ducournau die diskursiven Ebenen atmosphärisch auf. Als Regisseurin mag sich vor allem zum "verdauten Horror ihrer Figuren" bekennen, dem Genre bleibt sie in einem Sinne jedoch durchaus treu: Sie spricht durch die Oberflächen ihrer Bilder, die uns bis tief unter die Haut bewegen. (Dominik Kamalzadeh, 6.11.2021)