Außenminister Michael Linhart (ÖVP) mit seinem kirgisischen Amtskollege Ruslan Kazakbajew.

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Außenminister Michael Linhart (ÖVP) hat am Freitagabend (Ortszeit) in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek Sorge über die "alarmierende humanitäre Lage" in Afghanistan geäußert. Bei einer Pressekonferenz mit seinem Amtskollegen Ruslan Kasakbajew unterstrich Linhart die Notwendigkeit, die internationale Kooperation mit den Ländern der Region zu intensivieren. Kirgisistan war die erste von insgesamt vier Stationen einer Reise nach Zentralasien, die Linhart bis Dienstag weiters nach Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan führen wird.

Länder als Schutzring.

"Es droht ein schwarzes Sicherheitsloch", unterstrich der 63-jährige Diplomat mit Blick auf Afghanistan, wo nach dem Rückzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten die radikalislamischen Taliban die Macht übernommen haben. "Diese Länder bilden einen Schutzring." Es sei wichtig, in den Feldern Terrorismusprävention, Menschenhandel oder Migration zu kooperieren. Auch die Menschen in Afghanistan und den umliegenden Staaten dürften nicht vergessen werden. "Wir werden ihnen nicht den Rücken kehren."

Sicherheitspolitische Fragen sind in der Region äußerst virulent, schließlich grenzen drei der von Linhart besuchten Länder (Ausnahme ist Kirgisistan) an Afghanistan. "Längerfristig muss die internationale Gemeinschaft wohl einen Weg finden, mit den Taliban eine Handlungsbasis zu finden. Dazu sind aber gewisse Entwicklungen erforderlich", meinte Linhart während seines Besuchs in Bischkek und nannte den Zugang von Mädchen zum Schulunterricht als Beispiel.

Jedenfalls müsse verhindert werden, dass Afghanistan zu einem Nährboden und Exporteur islamistischen Terrors werde, etwa in Gestalt der Jihadisten des "Islamischen Staats".

Abwehr von Terroristen

Vor dem Hintergrund der unsicheren Lage in Afghanistan hatte sich im September auch Russland an regionalen Militärmanövern beteiligt. Mehr als 1.000 russische Soldaten nahmen in Kirgisistan an Übungen mit Panzern und Kampfjets teil, bei denen auch Kräfte aus Kasachstan und Tadschikistan vertreten waren. Bei dem Manöver "Rubesch 2021" ("Grenze 2021") wurde vor allem die Abwehr von Terroristen trainiert. Russland verhandelt zwar seit langem mit den Taliban, warnt aber auch vor islamistischen Kämpfern, die in ehemals sowjetische Gebiete eindringen könnten. Auch der Drogen- und Waffenschmuggel drohe zuzunehmen.

Vor allem während des Vormarschs der Radikalislamisten in Afghanistan war es auch zu Fluchtbewegungen gekommen. Betroffen war vordringlich Tadschikistan. Usbekistan und Turkmenistan machten die Grenzen dicht. Auch unter dem Verweis auf oder dem Vorwand der Corona-Pandemie.

Kooperation mit Kirgisistan

Nach einem Treffen mit Präsident Sadyr Schaparow am Vormittag (Ortszeit) nahm Linhart in Bischkek am ersten EU-Central Asia Economic Forum teil. Ein Schwerpunkt des Trips in die postsowjetische Region ist der Ausbau von Wirtschaftsbeziehungen, sowohl auf EU-Ebene als auch bilateral, etwa im Rahmen des vom Außenministerium (BMEIA) propagierten Corona-Wiederaufbauprogramms "ReFocus Austria".

Der Ausbau der Kooperation sowohl in wirtschaftlichen als auch wissenschaftlichen oder kulturellen Bereichen war ein Anliegen, das Linhart mit seinem kirgisischen Amtskollegen weiter forcieren will. Da gebe es ein großes Potenzial. Kasakbajew meinte, sein Land könne vom österreichischen Know-how etwa in puncto Digitalisierung, Bildung oder Landwirtschaft viel lernen. Er erinnerte auch daran, dass sich 2022 die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Kirgisistan und Österreich nach dem Zerfall der UdSSR zum 30. Mal jährt. Daher sei angedacht, im Jubiläumsjahr wechselseitige Kulturtage abzuhalten.

Linhart betonte gegenüber der APA auch die Notwendigkeit, dass die Europäische Union stark in der Region vertreten sei. Ihre Rolle wird vom lokalen Experten durchaus unterschiedlich interpretiert. Sie sei sehr wichtig, heißt es in EU-affinen Kreisen. Der Einfluss sei eher punktuell vorhanden, sagen andere Stimmen. Die wahren "Patrone" seien demnach immer noch Russland (in postsowjetischer Tradition betrachtet Moskau die Region etwa in der Sicherheitspolitik weiter als sein Hinterland) und zunehmend China. Nicht nur, "dass jede neue Straße von den Chinesen gebaut" werde – Peking sei in der Region sogar mit "privatem Militär" vertreten. Fazit: "Im Schatten der Seidenstraße passiert viel."

Turbulente Zeiten

Kirgisistan selbst erlebte freilich auch ohne äußeren Einfluss zuletzt turbulente Zeiten, die manche Experten sogar als "Putsch" klassifizieren. Der aktuelle Präsident Schaparow war im Oktober 2020 aus dem Gefängnis befreit worden, wo er wegen einer Geiselnahme eine Haftstrafe verbüßt hatte. Nach Machtkämpfen rivalisierender politischer Gruppierungen konnte Schaparow die meisten Anhänger mobilisieren. Der Nationalist übernahm den Posten des Regierungschefs, drängte Staatschef Sooronbaj Dscheenbekow aus dem Amt und ließ sich nach einer umstrittenen Wahl im Jänner selbst zum Präsidenten ernennen.

Im April verwandelte Schaparow das Hochgebirgsland an der Grenze zu China per Volksvotum mit einer Verfassungsänderung von einer Parlaments- zurück in eine Präsidialrepublik. Mit der neuen Verfassung ging ein Ausbau von Schaparows Vollmachten einher. So darf er nun etwa über die Zusammensetzung der Regierung bestimmen.

Weitere Proteste erwartet

Menschenrechtsaktivisten warnen daher vor autoritären Strukturen im krisengeschüttelten Kirgisistan. Allerdings wird in Bischkek nicht ausgeschlossen, dass es zu weiteren Protesten und Umbrüchen kommen könnte. Schließlich seien etwa die Preise für Grundnahrungsmittel zuletzt stark gestiegen. Sollte es über den Winter zu Problemen bei der Strom- oder Kohleversorgung kommen, seien durchaus Unmutsbekundungen der Bevölkerung zu erwarten.

Für latente Unruhe sorgt aber auch ein Grenzstreit mit Tadschikistan, bei dem es unter anderem um Wasser- und Mineralienressourcen oder ethnische Fragen geht. Zuletzt gab es im Frühjahr bei Gefechten dutzende Todesopfer auf beiden Seiten. In Diplomatenkreisen ist man aber optimistisch. Letztlich seien gerade fünf Prozent der gemeinsamen Grenze noch umstritten. Andere politische Beobachter sehen die Situation weniger rosig: Die diesbezüglichen bilateralen Gespräche werden als bisher wenig ergiebig eingestuft, der Konflikt könne jederzeit wieder eskalieren. (APA, red, 5.11.2021)