Hannah Lessing, Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, sagt im Gastkommentar über die neue Shoah-Namensmauer-Gedenkstätte, dass sie "den Wunsch nach einem würdigen Platz für das Gedenken an die ermordeten Roma und Sinti in Wien mitträgt".

Auf dem Archivbild ist die neue Holocaust-Gedenkstätte bei der Nationalbank noch nicht ganz fertig. Am 9. November wird sie feierlich eröffnet.
Foto: Andy Urban

Vor kurzem war an dieser Stelle Doron Rabinovicis Plädoyer Für einen Platz der Erinnerung zu lesen. Darin nimmt er Bezug auf die Shoah-Namensmauer-Gedenkstätte, die am 9. November am Ostarrichiplatz eröffnet wird. Seine Kritik: "Immer noch fehlt ein würdiger Ort für das Gedenken an die Vernichtung der Roma und Sinti." Überlegungen wie diese haben die Gedenkstätte seit den ersten Planungen vor rund 20 Jahren begleitet.

Dahinter steht eine weiterreichende, grundsätzliche Frage: Wie kann und soll man der Opfer des Nationalsozialismus gedenken? Gibt es überhaupt eine "richtige" Form des Gedenkens? Im Nationalfonds, der für alle Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet wurde, zeigte sich in den letzten 26 Jahren, wie viele Menschen unterschiedlicher Gruppen von Verfolgung betroffen waren. Unter den Verfolgten waren Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, aber eben auch politisch Verfolgte, Kärntner Sloweninnen und Slowenen, Zeugen Jehovas, Deserteure, Menschen, die wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung verfolgt waren, Homosexuelle oder die Kinder vom Spiegelgrund, um nur einige zu nennen.

"Jedes einzelne von den Nazis ausgelöschte Leben ist es gleichermaßen wert, erinnert zu werden."
Hannah Lessing
"Es geht darum, den Roma und ihrer Erinnerung endlich einen würdigen Platz zuzuerkennen."
Doron Rabinovici

Sicher, die Mehrzahl der Opfer waren Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti. Doch darf man das Gedenken an einen Ermordeten von der Größe der Verfolgtengruppe abhängig machen? Jedes einzelne von den Nazis ausgelöschte Leben ist es gleichermaßen wert, erinnert zu werden. In Zusammenhang mit der Shoah-Namensmauer-Gedenkstätte stellt sich für mich daher weniger die Frage, ob auch die Opfer unter den Roma und Sinti hätten aufgenommen werden sollen. Wenn überhaupt, dann stellt sich eher die Frage: Hätten nicht alle Opfer – gleich welcher Opfergruppe – mit ihren Namen genannt werden sollen?

Wie nun ein Ort des würdigen Gedenkens aussehen soll, darüber kann man diskutieren. Wien ist nicht der erste Ort, für den sich solche Fragen stellen – vergleichbare Diskussionen gab es schon anderswo, beispielsweise anlässlich der Errichtung des "Denkmals für die ermordeten Juden Europas" in Berlin.

Zentrale Bedeutung

Den Wunsch nach einem würdigen Platz für das Gedenken an die ermordeten Roma und Sinti in Wien trage ich mit – wenn ich auch der Ansicht bin, dass der "Stein im Favoritner Barankapark" durchaus ein würdiger Ort des Gedenkens ist. Der Nationalfonds hat seine Errichtung aus gutem Grund unterstützt, ist er doch für die Geschichte dieser Volksgruppe von zentraler Bedeutung: Über lange Zeit war am heutigen Barankapark-Hellerwiese der Lager- und Rastplatz von Sinti- und Roma-Familien.

Erinnerung und Gedenken müssen nicht notwendigerweise zentral und in großen Dimensionen stattfinden. Das Bewahren der Erinnerung an den historischen Orten ist ebenso wichtig und nicht weniger wertvoll, denn es gibt den Orten ein Stück Geschichte zurück, macht sie erfahrbar – dort, wo sie passiert ist und für die Opfer Bedeutung hat.

Gegen das Vergessen: Namen der durch die Nationalsozialisten ermordeten Jüdinnen und Juden.
Foto: Andy Urban

Die neue "Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich" ist ein Erinnerungsort, an dem ihres Schicksals gedacht und ihr Leben geehrt werden kann. Es ist wichtig, dass die Nachkommen der ermordeten jüdischen Menschen aus Österreich diesen Ort des namentlichen Gedenkens erhalten – einen Ort, an den sie gehen können, um denen nahe zu sein, die keinen Grabstein haben. Auf einer Zusatztafel wird aller weiteren Opfergruppen und Verfolgten des Nationalsozialismus gedacht.

Projekt, das Denkprozesse anregt

Der Wunsch nach einer Inklusion aller Opfergruppen ist begreiflich. Doch man kann diese neue Gedenkstätte auch anders begreifen: nicht als Projekt, das andere Opfergruppen ausschließt, sondern als eines, das Denkprozesse anregt und Mut zu weiteren Projekten macht – Projekten, die ebenso vielfältig sind wie die verfolgten Menschen. In Berlin führte die Diskussion um das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" letztlich zur Errichtung von Gedenkstätten für andere Opfergruppen.

Auch in Österreich könnte die neue Gedenkstätte eine Inspiration sein, individuelle Orte des Erinnerns zu schaffen. Zu rund 11.000 NS-Opfern unter den österreichischen Roma und Sinti existiert eine Datenbank mit persönlichen Daten – sie könnte durchaus Grundlage für ein ähnliches Projekt wie die Shoah-Namensmauer-Gedenkstätte sein.

Haltung zur Vergangenheit

Gedenkstätten und Mahnmale sind Erinnerungsorte im Sinne des französischen Historikers Pierre Nora: An ihnen kristallisiert sich das kollektive Gedächtnis, sie prägen die Erinnerungskultur und spiegeln unsere Haltung zur Vergangenheit. Inhalte und Formen des Gedenkens müssen deshalb immer wieder neu überdacht werden: Neue Erinnerungsorte werden geschaffen, wie das Deserteursdenkmal am Ballhausplatz oder das künftige Mahnmal für homosexuelle NS-Opfer. Auf der anderen Seite sind lange bestehende Denkmäler Gegenstand lebhafter Debatten.

Dass die neue Gedenkstätte kritisch diskutiert wird, zeigt, dass Gedenken ein lebendiger Prozess ist, der immer wieder das Ringen um Lösungen braucht. Schweigen bedeutet Vergessen. Die Diskussion um Formen und Ziele von Gedenken ist daher weniger ein Hindernis, sondern vielmehr Teil des Weges. (Hannah Lessing, 8.11.2021)