Der EuGH verlangt nun für den Fall einer Ablehnung eines Vorlageantrags explizit eine Begründung.

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Ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) behandelt einen unspektakulären Sachverhalt mit einem spektakulären Ergebnis: Zwar scheint es die bisherige Rechtsprechung über das Zusammenspiel von nationalen Gerichten und EuGH nur zu bestätigen, stellt aber in Wirklichkeit neue Weichen.

Dabei war der zuständige Generalanwalt Michal Bobek im Fall C-561/19 (Consorzio Italian Management) in seinem Schlussantrag im April ausgezogen, das genaue Gegenteil zu erreichen: Angesichts einer – behaupteten – Überlastung des EuGH auf der einen Seite und einer – gleichfalls behaupteten – "Reifung der nationalen Gerichtssysteme" in den Mitgliedstaaten sollte der Zugang zum EuGH erschwert werden.

Laut Art. 267 Abs. 3 AEUV müssten die letztinstanzlichen Gerichte Auslegungsfragen zum EU-Recht an den EuGH verweisen. Schon zum Zwecke der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts im gesamten Unionsraum muss die Letztauslegung dieses Rechts auf zentraler Ebene, also durch den EuGH, erfolgen.

Zwar kennt der genannte Artikel dazu keine explizite Ausnahme, doch versteht es sich von selbst, dass die Vorlage in Luxemburg kein Automatismus sein kann: Fragen, die keinen Zusammenhang zu einem national anhängigen Streitfall aufweisen oder bereits verbindlich durch den EuGH ausgelegt worden sind, sollen nicht vorgelegt werden und den EuGH belasten. Dieser Ansatz wurde vor vier Jahrzehnten in der sogenannten CILFIT-Rechtsprechung entwickelt.

Nicht mehr zeitgemäß

Für Bobek war dieser Ansatz nicht mehr zeitgemäß. Der EuGH sollte sich nur noch mit den großen Leitfragen beschäftigen und korrigierend eingreifen, wenn es allzu große nationale Abweichungen vom allgemeinen Verständnis des EU-Rechts geben sollte. Es sollte weiter strikt zwischen der Auslegung und der Anwendung von EU-Recht unterschieden werden. Die Anwendung von EU-Recht sollte rein Sache der nationalen Gerichte sein.

Tatsächlich erschließen sich Auslegungsfragen aber oft erst über den konkreten Anwendungskontext. Diesen zu ignorieren würde bedeuten, dass der EuGH vielfach "im luftleeren Raum" entscheiden müsste, also nur noch Prinzipienentscheidungen von begrenzter praktischer Relevanz treffen könnte.

Dies würde aber nicht nur die Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens infrage stellen, sondern auch den Individualrechtsschutz in der EU, um den es ohnehin nicht besonders gut gestellt ist, zusätzlich untergraben.

Begründung gefordert

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 6. Oktober ein Machtwort gesprochen und die CILFIT-Rechtsprechung bestätigt. Das Urteil enthält allerdings noch eine wichtige zusätzliche Passage: Der EuGH verlangt nun für den Fall einer Ablehnung eines Vorlageantrags, die weiterhin gemäß den bekannten Kriterien möglich bleibt, explizit eine Begründung. Und diese muss sachgerecht und nachvollziehbar sein.

Der EuGH verweist dabei auf Art. 47 der Grundrechte-Charta. Dieses Element ist nun das eigentlich bahnbrechende: Verweigern letztinstanzliche Gerichte eine Vorlage ohne Begründung oder ist diese unzureichend, kann nun die sogenannte Köbler-Rechtsprechung wegen judiziellen Unrechts und somit Staatshaftung greifen.

Die Begründungspflicht einer Vorlageverweigerung war zwar auch schon in der Vergangenheit gemäß Art. 6 EMRK gegeben. Nunmehr wird sie aber aus dem Unionsrecht heraus verlangt und kann damit auch über das an und für sich sehr effiziente Rechtsschutzsystem dieser Rechtsordnung, die im Staatshaftungsverfahren auf die nationalen Gerichtssysteme verlagert wird, durchgesetzt werden.

Die Begründungspflicht eröffnet damit einen neuen Rechtsdurchsetzungsweg bzw. macht diesen konkret gangbar. In erster Linie trägt sie aber dazu bei, dass das Rechtsdurchsetzungsproblem in seiner Wurzel behoben wird: Das Gebot der Begründung führt notwendigerweise zu einer intensiveren Auseinandersetzung der zuständigen Gerichte mit dem anwendbaren Unionsrecht und bewirkt damit, dass Unionsrecht breitere Beachtung findet und unmittelbar anwendbares EU-Recht auch unmittelbar angewandt wird. (Peter Hilpold, 8.11.2021)