Ein Denkmal erinnert seit ein paar Jahren an den in der Pogromnacht 1938 zerstörten Humboldttempel in Wien-Favoriten. Hannah Arendts „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ lesen wir dort. So wahr dieses Zitat der Philosophin und Überlebenden im Allgemeinen ist, so falsch ist es an diesem besonderen Ort. Denn der Novemberpogrom lässt sich gerade in Wien nicht mit blindem Gehorsam, sondern nur mit überbordendem Hass erklären.

Hass statt Gehorsam

Der Pogrom bildete den Höhepunkt eines von antisemitischen Ausschreitungen geprägten Jahres. Bereits rund um den Anschluss kam es zu Übergriffen, auf die dann die zahlreichen wilden Arisierungen folgten. Die deutschen Machthaber hatten alle Hände voll zu tun, ihren österreichischen Anhang davon abzuhalten, die Judenfrage nach eigener Fasson (und zum persönlichen Vorteil) zu lösen.

Der Humboldttempel um 1900 im 10. Bezirk.
Foto: Gemeinfrei

„An diesem Abend“, schrieb Carl Zuckmayer über den 11. März 1938, „brach die Hölle los. Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. […] Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte. […] Was hier entfesselt wurde, hatte mit der ‚Machtergreifung’ in Deutschland, die nach außen hin scheinbar legal vor sich ging und von einem Teil der Bevölkerung mit Befremden, mit Skepsis oder mit einem ahnungslosen, nationalen Idealismus aufgenommen wurde, nichts mehr zu tun. Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht.“

Es waren nicht nur als Zivilisten getarnte Angehörige der SA, die sich am 9. November 1938 gegen die Jüdinnen und Juden mal wieder austoben sollten. Der Pogrom war in Österreich auch einer von unten. Der antisemitische Mob wütete in einem Ausmaß, dass die Nazi-Größen angesichts des Verlustes von „Volkseigentum“ tobten. Und die Berichte des Sicherheitsdienstes (SD) über jene Novembertage berichten eindrucksvoll von den Schwierigkeiten, den losgelassenen Hass wieder einzufangen und die aufgebrachte Meute wieder von den Straßen zu bringen. Die Gewaltorgie kostete alleine in Wien 27 Menschenleben, von den Hunderten Selbstmorden in den Folgetagen und -wochen ganz zu schweigen. Erklären lässt sie sich nur mit dem überschießenden Antisemitismus, der in Österreich grassierte.

Antisemitische Avantgarden

Nach Hannah Arendt war Österreich das erste Land, in dem sich der Antisemitismus „zu einer ideologischen Kraft, die […] andere Ideologien siegreich aus dem Felde schlug“, entwickelt hatte. Zudem wies er in seiner österreichischen Spielart im 19. Jahrhundert „schon deutlichst in das zwanzigste“. Tatsächlich verlangte etwa Ernest Schneider (Christlich-Soziale) bereits 1898 im Niederösterreichischen Landtag die Einführung von Prämien für den „Abschuss“ von Jüdinnen und Juden. Später war es Schneiders Parteifreund Leopold Kunschak, der den deutschen Nazis vorwarf, sie hätten sich mit den „Juden“ längst arrangiert. Und in den deutschnationalen Korporationen (Burschenschaften) überbot man sich darin, den Antisemitismus zu radikalisieren. Aus diesen Kreisen stammt die Idee vom Arierparagrafen, der dann nach Deutschland exportiert wurde. Arnold Zweig versuchte nicht zu Unrecht, den NS-Vernichtungsantisemitismus aus der „Übertragung jenes deutsch-österreichischen Studentenantisemitismus auf das ganze Deutsche Reich“ zu erklären.

Angesichts des antisemitischen Überschusses in Österreich, der nach jüngsten Studien sich auch heute im westeuropäischen Vergleich feststellen lässt, überrascht die überproportionale Tatbeteiligung an der Shoah nicht: Simon Wiesenthal wies Mitte der 1960er-Jahre darauf hin, dass rund die Hälfte der ermordeten Jüdinnen und Juden unmittelbar auf das Schuldkonto von Ostmärkern ging. Drei Viertel der Kommandanten der Vernichtungslager stammten aus Österreich, gleiches gilt für 80 Prozent des Personals in Adolf Eichmanns „Judenreferat“.

Schuldanhäufung

In Österreich, in Wien der Opfer des Antisemitismus zu gedenken, heißt an dieses Übermaß an historischer Verantwortung zu denken. Es nicht zu tun, hieße sich neue Schuld aufzuladen. Auch von dieser „zweiten Schuld“, von der der Überlebende Ralph Giordano sprach, wurde hierzulande ein Übermaß angehäuft. Die Versuche (extremer) Rechter, sie durch demonstrative Bekenntnisse zur Sicherheit Israels abzutragen, sind schäbig. Sind solche Bekenntnisse doch nur Instrumente im ideologischen Feldzug gegen Muslime, die kollektiv des Antisemitismus bezichtigt werden. Den eigenen verleugnet man unter Rechten – bis bekannt gewordene Liederbücher und WhatsApp-Unterhaltungen ihn zum Vorschein bringen.

Auf der Linken besteht die anhaltende Schuld dort, wo denjenigen, die heute vom Antisemitismus bedroht sind, die Solidarität verweigert wird. Das gilt vor allem für den Staat der Opfer und ihrer Nachkommen: Die Gefahr, in der Israel sich dauernd befindet, wird nicht gesehen oder geleugnet und der Antisemitismus nur unter (extremen) Rechten bekämpft. Den eigenen versteckt man hinter humanitären Floskeln oder tarnt ihn als „Israelkritik“. An den Reaktionen auf die Kritik an der „Israelkritik“ ist dann oft zu erkennen, was diese tatsächlich ist: Ressentiment. (Andreas Peham, 9.11.2021)

Andreas Peham ist FIPU-Mitglied und in der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich engagiert. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er in der Lehrer:innenfortbildung und im Rahmen der Politischen Bildung an Schulen tätig. Anfang 2022 erscheint im Schmetterling-Verlag seine „Kritik des Antisemitismus“.

Die Rede wurde am 8. November zum Novembergedenken vor der Bezirksvertretung Favoriten gehalten.

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