Vor 20 Jahren krähte kein Hahn nach seinem Bier, erzählt Jean van Roy. Dann schwappte die Craftbier-Welle über die Welt und plötzlich rissen sich Bierfreaks aller Herren Länder darum. Sodass sich der Eigentümer der Brüsseler Brauerei Cantillon heute aussuchen kann, an wen er verkauft. "Manchmal habe ich das Gefühl, das Ganze ist ein Traum", sagt van Roy, "wenn ich daran denke, wie schlecht einst über uns gesprochen wurde, wie lange wir ums wirtschaftliche Überleben kämpften – und jetzt das."

Neukunden nehme er nur äußerst selten, fährt der schlanke und leicht bärbeißige Braumeister fort. "Bei ihnen bin ich schnell verleitet zu fragen: Wo warst du eigentlich vor 20 Jahren? Und wieso interessierst du dich plötzlich für mein Bier? Deswegen verkaufe ich lieber an Leute, die schon damals zu uns hielten."

Ohne Kontrolle

Dazu ist zu sagen, dass die Biere von Cantillon ganz besondere sind, sowohl in Machart als auch Geschmack. Es handelt sich um traditionelle belgische Sauerbiere, genannt Lambic. Von herkömmlichen Bieren unterscheiden sie sich in erster Linie dadurch, dass sie spontanvergoren sind, ihnen also keine selektierte Bierhefe zugesetzt wird. Stattdessen wird der Sud in einer Art Wanne ausgebreitet, dem sogenannten Kühlschiff. Dort, unter dem Dachstuhl der Brauerei, verbleibt er mehrere Stunden bei offenen Fenstern, um abzukühlen und die in der Luft natürlich vorkommenden Hefebakterien einzufangen.

Das ikonische Sauerbier Gueuze aus Belgien erinnert an erfrischenden Schaumwein mit Hopfen- und Getreidenoten.
Foto: Georges Desrues

Danach wird der Sud zum Fermentieren in Holzfässer gefüllt. Ein Prozess, der, da es sich um natürliche und nicht um selektierte Hefen handelt, unterschiedlich lang dauern kann. Und unterschiedliche Resultate hervorbirgt. "Das Ergebnis ist das Zusammenspiel von Hefen mit Holz und Zeit, weswegen der Begriff Braumeister auf mich auch nicht zutrifft", möchte Roy betont wissen, "denn unter einem ,Meister‘ versteht man jemanden, der irgendwie Kontrolle hat über sein Bier, bei Lambic hat man das aber nun einmal nicht. Weder kontrolliere ich das Bier noch die Gärung. Das alles ist einzig und allein eine Frage des Gefühls, das man für seine Brauerei und den gesamten Prozess aufbringen muss."

Abgemischt

Daraufhin serviert er ein einjähriges, verdächtig schaumloses Lambic. Die Fermentation ist nicht komplett abgeschlossen, Kohlensäure hat es keine, in Geschmack und Mundgefühl ist es ziemlich heftig. Wie Apfelwein aus richtig sauren Äpfeln. So trinke man es in der Regel allerdings nicht, beruhigt der Brauer und schenkt ein weiteres Glas aus einer anderen Flasche ein. Das schmeckt um einiges runder, aber nach wie vor herausfordernd.

Diesmal ist es drei Jahre altes Lambic, eines also, das sich schon etwas beruhigt hat. Mehr als an Apfelwein erinnert es an sauren Weißwein. Und auch an eine Szene im Film In Bruges, als der irische Killer, gespielt von Colin Farrell, in einer Bar in Brügge zwei Bier bestellt. Ein belgisches für seinen Freund und ein normales für sich. "Weil ich ja normal bin."

"Das ältere verschneiden wir mit dem jüngeren, dann kommt es in eine Flasche, in der die noch nicht gänzlich vergorenen Hefen aus dem jüngeren eine weitere Gärung einleiten, so erhalten wir eine Gueuze", erklärt van Roy und öffnet eine dritte Flasche.

Jean van Roy hat immer weniger Zeit, um sein Bier zu brauen.
Foto: Georges Desrues

Die Gueuze schmeckt tatsächlich erstaunlich. Nach wie vor ziemlich säurebetont, aber entscheidend balancierter, mit einer ganzen Palette an Aromen, die man in diesem Umfang einem Bier kaum zugetraut hätte. Umdenken muss man freilich weiterhin. Nach Apfel- und Weißwein bei den Lambics kommen jetzt Assoziationen mit Sekt auf. Gleichermaßen erfrischend wie der Schaumwein, allerdings mit Hopfen- und Getreidenoten sowie Körper und Mundgefühl eines Biers.

Geringe Mengen

Zum Teil ist der Hype ums Cantillon freilich auch den geringen Mengen geschuldet, die erzeugt werden. Obgleich van Roy vor fünf Jahren ein zusätzliches Gebäude erwerben und die Mengen steigern konnte, braut er inzwischen jedes Jahr weniger Bier. Verantwortlich ist der Klimawandel. Denn Cantillon ist eine der wenigen unter dem verbliebenen Dutzend Lambic-Brauereien in ganz Belgien, die strikt auf elektrische Kühlung verzichten und prinzipiell nur in den kalten Monaten brauen.

Würde er bei zu warmen Temperaturen brauen, wäre das Bier kaum trinkbar. "Dann würde keine Hefe-, sondern eine bakterielle Gärung einsetzen, weil bei warmem Wetter die Bakterien überhandnehmen. Solches Bier stinkt nach Schwefel und schmeckt grauenvoll", so van Roy. Doch die kühlen Monate werden immer weniger.

Während sein Großvater noch von Mitte Oktober bis in den Mai hinein braute, stellt er selbst die Produktion meist schon im März ein. Wie lange es das Sauerbier von Cantillon in seiner pursten Form also noch geben wird, ist schwer zu sagen. Leichter erhältlich wird es aber mit Sicherheit nicht. (Georges Desrues, RONDO exklusiv, 4.1.2021)