Da war doch was? Als alle daheim bleiben mussten, weil draußen Pandemie war ... Lockdownleere auf dem Shoppingcenter-Parkplatz.

Foto: APA / Helmut Fohringer

Plötzlich ist das L-Wort wieder da. Fast zwei Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie geistert die Idee eines Lockdowns erneut herum. Geplant ist er für Ungeimpfte ohnehin, sollten irgendwann 600 Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt sein – da sieht der Stufenplan der Regierung Ausgangsbeschränkungen für Nichtgeimpfte vor. Aktuell liegen – stand Montag – 377 Corona-Intensivpatienten in den Spitälern. Die Stufe vier – also 2G statt 3G – wurde vorgezogen und gilt seit Montag. Ursprünglich war diese bei einer Belegung von 500 Corona-Intensivbetten vorgesehen. Aber droht insgeheim längst ein Lockdown für alle, wie manche fürchten?

Kanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) hat das mehrfach ausgeschlossen: "Es wird keinen Lockdown für Geimpfte geben", sagt er. Andere Regierungsmitglieder sind da vorsichtiger: Kategorisch ausschließen könne man nichts, heißt es von grüner Seite – auch wenn regionale Lockdowns für alle nur "die letzte Konsequenz" sein könnten. Derzeit sei definitiv kein allgemeiner Lockdown in Planung, wird versichert. Das Treffen zwischen Regierung, Ländern und Experten am Freitag sei auch gut und einvernehmlich verlaufen. Oder, wie manche Grüne sagen: Mit Schallenberg könne man sich gut einigen. Gemeint ist damit wohl: besser als mit dessen Vorgänger. Auch die Landeshauptleute hätten alle erkannt, wie ernst die Lage schon wieder ist. Die Neos verlangten dennoch am Montag von der Regierung eine Garantie gegen einen neuerlichen Lockdown für Geimpfte und Genesene.

"Seids ihr nicht ganz dicht?"

Politik in der Pandemie ist das eine. Wissenschaft oft etwas ganz anderes. Oder, wie Simulationsforscher Niki Popper im STANDARD-Gespräch sagt: "Mit dem Virus kann man nicht politisch verhandeln." Was also sagt der Wissenschafter zur Lockdownfrage? "Wir sind nicht weit davon entfernt", meint Popper, der dem nationalen Covid-Prognose-Konsortium angehört. Allerdings: "Für mich ist es unvorstellbar, dass ein Lockdown kommt. Welcher Politiker sollte den jetzt verhängen? Die Geimpften würden sagen: 'Seids ihr nicht ganz dicht?' Die Ungeimpften: 'Ich fürchte mich ja nicht davor. Was willst von mir?'" Vor diesem Szenario hält er Lockdown-Überlegungen für schwierig. "Allerdings muss man das aktuelle Wachstum genau anschauen. Die einzige nachhaltige Strategie, die uns vor Maßnahmen oder einem Lockdown schützt, ist das Impfen. Akut sind wir aber damit zu spät dran."

Die entscheidende Frage jetzt sei, wie das sehr spät verordnete 2G-Regime, Impfungen und Neuinfektionen zusammenwirken werden. In manchen Regionen – etwa den Hochrisikospots in Oberösterreich und Salzburg – werde man "vielleicht schon bald einen Peak" bei den Corona-Zahlen und zeitversetzt in den Spitälern sehen und wissen, ob akute Maßnahmen schnell genug greifen. Denn offen ist, wie hoch dieser Gipfel sein wird.

Frustrierende Impfquote

"Frustrierend" dabei sei, "dass wir gar nicht so weit weg sind" von einer Immunisierungsquote, die dem Spuk ein Ende machen würde: "Boostern reduziert jedenfalls die Infektionswelle für die nächsten Monate." Neue Analysen von Poppers Team zeigen, dass die Immunisierung der Bevölkerung die Dynamik zwar bereits halbiert, das reicht derzeit aber gegen Delta und die Saisonalität noch nicht. Es ist also zu früh, um Covid-19 zu einer "normalen" Krankheit zu erklären, mit der das Gesundheitssystem ohne Überlastung umgehen kann.

Entscheidendes Kriterium bleibt die Situation auf den Intensivstationen. Auch wenn die Corona-Neuinfektionszahlen in ganz Österreich vorläufig in eine Richtung zeigen – nach oben –, zeigt sich: Die Entwicklung in den Spitälern ist durchaus divers. Immer kritischer wird die Lage in Oberösterreich, dem Impf-Schlusslicht: Dort waren am Montag 77 Corona-Intensivbetten belegt, acht mehr als am Sonntag. Im Wochenvergleich betrug der Anstieg 26 Intensivpatientinnen und -patienten.

Wie angespannt die Lage ist, zeigt ein nicht öffentliches Protokoll einer Sitzung der Corona-Kommission von vergangener Woche, das dem STANDARD vorliegt. Dort räumte der Vertreter des Bundeslands ein, dass die Situation in den Krankenhäusern "mit großer Sorge" betrachtet werde, da aktuell auch die Belastung durch andere Krankheiten oder Unfälle sehr hoch sei. Planbare Operationen müssten bereits "zu großen Teilen verschoben werden". Bei einer Verschärfung der Situation sei damit zu rechnen, "dass auch die Akutversorgung fallweise an ihre Grenzen gerät".

Wien prüft noch strengere Regeln

Im Burgenland hingegen gibt es nur drei Corona-Intensivfälle. In Wien ist die Situation auf den Intensivstationen seit eineinhalb Monaten auf erhöhtem Niveau weitgehend stabil. Dennoch könnte Wien erneut strenger als der Bund agieren: So prüfen Juristinnen und Juristen im Rathaus, ob die 2G-Regel auch bei Zwölf- bis 15-Jährigen eingeführt werden kann. Bundesweit gilt für diese Gruppe, dass Tests als Eintrittsnachweis in Sport- und Kulturbereiche oder Lokale ausreichen: Der Ninja-Pass wird dem 2G-Nachweis gleichgestellt.

Um die Impfquote zu erhöhen, weiten viele Bundesländer die Impfangebote aus. Am Dienstag startet in Oberösterreich eine Aktion in über 100 Ordinationen im niedergelassenen Bereich. Für das Wochenende ist eine landesweite Impfaktion geplant. Am Sonntag gab es österreichweit fast 20.000 Impfungen, davon waren 6.700 Erststiche.

Es antwortet Hans-Peter Hutter, Public-Health-Experte und Epidemiologe
DER STANDARD

Einmal alle durchtesten

Die Wirkung dieser Impfungen setzt aber erst zeitversetzt ein. Der Epidemiologe Hans-Peter Hutter (Med-Uni Wien) schlägt daher im STANDARD-Gespräch "so bald wie möglich" eine "Testwoche" für alle Erwachsenen vor, "um die aktuell asymptomatisch Infizierten herauszufischen. Damit könnten Infektionsketten rechtzeitig unterbrochen werden. Das wäre eine Möglichkeit, um einen Lockdown zu verhindern", meint er.

Ein Schwerpunkt sollte auf die Gruppe der 18- bis ungefähr 40-Jährigen gelegt werden, "weil das vor allem diejenigen sind, die im Arbeitsleben stehen, viel ausgehen und ein sehr aktives Sozialleben haben, bei denen aber auch die Impfquote noch nicht optimiert ist", erklärt Hutter. Die Testwoche wäre insofern auch wichtig, "weil das Contact-Tracing, also die Kontaktverfolgung angesichts der hohen Zahlen nicht mehr optimal funktionieren kann beziehungsweise am Kollabieren ist".

Die jetzt verordnete 2G-Regel begrüßt er grundsätzlich, wenngleich das "alles viel zu langsam" gehe. Aber 2G enge soziale Zusammenkünfte wenigstens auf zwei Gruppen ein, "bei denen das epidemiologische Risiko deutlich geringer ist" als bei 3G, das den Zugang auch für Getestete erlaubt hat. "Eine solche Regelung hat aber nur einen Sinn, wenn die Einhaltung auch kontrolliert wird. Das ist in vielen Regionen überhaupt nicht der Fall. Die Landeshauptleute müssen hier durchgreifen und die Bezirke und Gemeinden, in denen die Fallzahlen besonders hoch sind, in die Pflicht nehmen", fordert Hutter.

Noch ein Lockdown wäre ein "Armutszeugnis"

Einen neuerlichen Lockdown will sich der Epidemiologe gar nicht erst vorstellen: "Das wäre wirklich ein Armutszeugnis, wenn wir es ohne Lockdown nicht schaffen können, wenn wir es als eines der reichsten Länder nach fast zwei Jahren Pandemieerfahrung nicht zusammenbringen, einen neuerlichen Lockdown zu verhindern. Wir wissen ja, wie es geht. Das Drama liegt in den nun schleppenden Zuwächsen bei der Durchimpfung. Alle Maßnahmen, die funktionieren, die helfen, sind bekannt und wissenschaftlich unumstritten. FFP2-Masken, Abstand halten, Kontaktreduktion, drei Mal impfen. Aber es gibt leider Gruppen, die das ablehnen, darunter besonders eine, die das sogar als politisches Ziel erklärt hat."

Wenn etwa in Oberösterreich, das den unrühmlichen ersten Platz bei den täglich steigenden Infektionszahlen und den letzten Platz bei der Impfquote hat, die Wählerinnen und Wähler der neuen Partei MFG (Menschen, Freiheit, Grundrechte) alle Maßnahmen verweigern und sich nicht impfen lassen, "dann ist für mich klar, dass sich das Virus dort besonders ausbreitet", sagt Hutter.

MFG kam bei der Landtagswahl im September auf 6,23 Prozent der Stimmen, in absoluten Zahlen waren das 50.325 Personen. "Unfassbar ist, dass das Pflegepersonal beschimpft wird, weil es angesichts der immensen Belastung auf den Stationen, die mit Covid-19 Patienten zu tun haben, für die Impfung demonstriert hat", sagt Hutter dazu. (David Krutzler, Katharina Mittelstaedt, Lisa Nimmervoll, 9.11.2021)