Kurt Tutter (links) mit Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP), bei der Verleihung des Großen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich am Montag.

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Wenn am Dienstagnachmittag die Shoah-Namensmauern im Ostarrichipark in Wien feierlich eingeweiht werden, wird das für einen Mann ein ganz besonderer Tag sein: Der 91-jährige Kurt Yakov Tutter, ein gebürtiger Wiener, hat über 20 Jahre um diese Gedenkstätte gekämpft. Um einen Ort, wo er und seine Schwester um ihre in Auschwitz ermordeten Eltern trauern können, weil es kein Grab gibt, wo sie das tun könnten.

Auf den 160 Gedenktafeln, die in ovaler Form um ein Rasenstück mit Bäumen nahe dem alten AKH stehen, sind die Namen von 65.000 ermordeten jüdischen Kindern, Frauen und Männern aus Österreich verewigt. Dass ausgerechnet er einmal der Initiator einer Gedenkstätte in Österreich sein und hier das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik erhalten würde, hätte sich Tutter, der seit 1948 in Toronto lebt, wohl noch in den 1980er Jahren niemals vorstellen können. Er musste als Neunjähriger 1939 aus Österreich nach Belgien fliehen.

Neue Freunde

DER STANDARD traf Tutter am Montag vor der Verleihung des Ehrenzeichens. Österreich sei für ihn lange ein Land gewesen, mit dem er nichts zu tun haben wollte, sagt Tutter. Das ist heute anders. Begonnen hat eigentlich alles, als der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky "die Hand ausgestreckt habe" und von den Nazis Vertriebenen die Staatsbürgerschaft angeboten hat. Tutter habe sich gedacht, er ergreife die Hand, aber als er eine Nachricht vom Magistrat bekam, in der man ihm mitteilte, dass er nicht dafür infrage käme (sein Vater war aus Galizien, hat im Ersten Weltkrieg für Österreich gekämpft), habe er sich gedacht "Hol euch der Teufel!". Das beherzte Eintreten des damaligen österreichischen Botschafters in Kanada, Walther Lichem, machte es möglich, dass Tutter doch noch Österreicher wurde. "2.000 Euro hat der Spaß gekostet." Kanadier ist er natürlich auch geblieben.

Walther Lichem unterstützte 2000 auch die Gründung des Vereins, der teilweise gegen heftigen Gegenwind die Errichtung der Gedenkstätte möglich machte. Die Regierung übernahm schließlich den Großteil der Kosten von insgesamt rund 5,3 Millionen Euro. Den Rest bezahlten die Bundesländer (600.000 Euro) und die Industriellenvereinigung (230.000 Euro).

Kurt Tutter (links) im Ostarrichipark 2018. Die grüne Ex-Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou (rechts) war die Erste, die er überzeugen konnte, so Tutter.
Foto: Robert Newald

Ohne Namen zu abstrakt

Es geht Tutter aber längst nicht nur um seine Eltern, die 1942 aus Belgien nach Auschwitz deportiert wurden, während Tutter und seine Schwester von einer Belgierin versteckt wurden. Es gehe ihm auch um die tausenden jüdischen Familien, von denen niemand überlebt hat. Für sie können keine Nachkommen ein Gebet sprechen. Auch um sie soll an dieser Gedenkstätte getrauert werden können. Bestehende Denkmäler wie jenes auf dem Judenplatz in Wien seien Tutter "viel zu abstrakt, weil da keine Namen stehen".

Und: "Es geht um Gleichberechtigung mit den Kindern der 660.000 Wehrmachtssoldaten", die heimgekehrt sind und nach einem vielleicht langen Leben in Österreich bestattet wurden: "Mit einem großen Grabstein mit ihrem Namen drauf, wo ihre Kinder Blumen hinbringen können." So erklärte das Tutter 2018 auch dem damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP). "Ich glaube, das hat ihn beeindruckt", sagt er.

Die Träger und Trägerinnen der 65.000 Namen werden für Tutter am Dienstag auch anwesend sein. Als er mit dem Design der Namenstafeln zu Hause in Kanada begann, hatte er zwei Seiten der Namen, die ihm das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands geschickt hatte, abgetippt, um zu sehen, wie groß die Buchstaben sein sollten. "Wie ich die Namen getippt habe, hatte ich das unheimliche Gefühl, dass diese Menschen hinter mir gestanden sind." Die Toten haben ihm gesagt, er müsse weitermachen, und das tat Kurt Tutter.

Kritik kam in den letzten Wochen auch von mehreren Seiten. Der Schriftsteller Doron Rabinovici forderte in einem Gastkommentar im STANDARD einen würdigen Ort für das Gedenken an die Vernichtung der Roma und Sinti, den es in Wien immer noch nicht gibt. Und Rabinovici sah in dem Umstand, dass gerade die türkis-blaue Regierung am Ende Tutters Mahnmal möglich machte, einen Versuch der FPÖ, ihren eigenen Antisemitismus vergessen zu machen.

Kein Kommentar

Der rüstige Austrokanadier Tutter will sich zu innenpolitischen Fragen nicht äußern. Er wähle zwar in Österreich, weil das "eine demokratische Pflicht ist, aber ich lebe in Toronto". Sonst bekommt man keinen Kommentar zur aktuellen Politik im Land. Doch zu den Roma und Sinti sagt er dann doch etwas: Er habe als Bub beim Anstellen vor einem Gefängnis, in das er seinem Vater Essen brachte, gesehen, wie ein NS-Wachmann "eine Romafrau so packte, dass ihr Baby, das sie im Arm hielt, hoch durch die Luft flog". Tutter ist immer noch erschüttert, wenn er davon erzählt.

"Kein Kartoffelsalat"

Er habe Rudi Sarközi 2005 besucht und mit ihm selbst über die Idee der Namensmauern gesprochen. Sarközi mochte die Idee, hatte aber noch nicht alle Namen der Opfer der Roma und Sinti beisammen, erinnert sich Tutter. "Dann hat er gesagt: Eines sollten Sie gut verstehen, ich will keinen Kartoffelsalat haben, das waren seine Worte, ihr Juden sollt eure Gedenkstätte haben und wir Roma unsere." Die beiden Männer hätten sich noch öfter freundschaftlich getroffen, aber das Thema sei für Tutter dann erledigt gewesen.

Vor dem Treffen mit Tutter sprach DER STANDARD am Montag auch mit Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP), die das Projekt Namensmauern seit Jahren für die Bundesregierung begleitet. Sie hält der Kritik entgegen, dass man auch Zusatztafeln an der Gedenkstätte angebracht hätte, die an die anderen Opfergruppen erinnern – freilich namenlose. Weitere Gedenkstätten schließe sie nicht aus, doch einen Tag vor der Einweihung der Shoah-Gedenkstätte, die Jahre geplant wurde, wolle sie darüber nicht diskutieren.

Dass ausgerechnet eine Baufirma, die in der NS-Zeit jüdische Zwangsarbeiter ausbeutete, die Fundamente der Gedenkstätte errichtete – DER STANDARD berichtete – habe man nicht gewusst, so Edtstadler. "Es sollte viele andere Unternehmen auch motivieren, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen", sagt die Ministerin. Bei der Auswahl der Firma habe man aber auch aus technischen Gründen sicher nicht viele Möglichkeiten gehabt. Wichtig sei Edtstadler für ihr "Herzensprojekt" auch, dass sich Tutter "jetzt in Österreich wohlfühlt", sagt die ÖVP-Politikerin. Das tut Tutter, der am Ende des Gesprächs sagt, er fühle sich bei "jedem Besuch und jedem Schritt" in seiner Geburtsstadt wohler. (Colette M. Schmidt, 9.11.2021)