Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka legte zum Gedenken einen Kranz beim Mahnmal für die Opfer der Shoah nieder. Bundespräsident Alexander van der Bellen konnte wegen der Corona-Infektion einer Mitarbeiterin nicht teilnehmen.

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Wien – Am Dienstag jährt sich zum 83. Mal das Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung in Österreich und Deutschland in der Nacht auf den 10. November 1938. Damals wurden jüdische Mitbürger ermordet, ihre Geschäfte geplündert, Wohnungen verwüstet und Synagogen angezündet. Politiker und Kirchenvertreter gedachten am Dienstag der Opfer und mahnten angesichts der aktuell zunehmenden antisemitischen Tendenzen zur Wachsamkeit.

"Es gilt, wachsam zu sein und die Stimme zu erheben", appellierte Bundespräsident Alexander Van der Bellen via Facebook und Twitter. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten sei "nicht vom Himmel gefallen. Er war schon zuvor in der österreichischen Gesellschaft sehr stark präsent." Aus Abwertung von Menschen sei Ausgrenzung, Entmenschlichung und Ermordung geworden, mit dem grausamen Endpunkt der Shoah. Heute wird jener gedacht, die "gedemütigt, gequält, vertrieben oder ermordet wurden, in Trauer, mit Demut – und mit Verantwortung". Verantwortung bedeute vor allem, "dass wir entschieden und entschlossen gegen jede Form der Menschenverachtung, des Rassismus und des Antisemitismus auftreten".

Van der Bellen wollte zum Gedenken eigentlich einen Kranz beim Mahnmal für die Opfer der Shoah niederlegen. Wegen der Corona-Infektion einer Mitarbeiterin ist er allerdings im Homeoffice. Die Kranzniederlegung nahm an seiner Stelle Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) vor.

Aktionen zur Erinnerung

"Uns Nachgeborene mahnt die Geschichte, achtsam zu sein und uns jeglichem Antisemitismus und Rechtsextremismus entschlossen entgegenzustellen", erklärte Justizministerin Alma Zadić (Grüne) in einer Aussendung. Sie hat mit Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) in Österreich die Schirmherrschaft für eine vom World Jewish Congress initiierte Videoaktion übernommen. In Wien und Linz werden in der Pogromnacht zerstörte oder nicht mehr existierende Synagogen durch Videoprojektionen digital rekonstruiert.

Einblick in das damalige jüdische Leben bietet auch das österreichisch-deutsch-schweizerische Projekt "LEBENSGESCHICHTEN – Zeitzeugnisse von Genoziden" der Bildungsplattform IWitness, das Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) am Dienstag präsentierte. Auf der Website sind rund 900 deutschsprachige Interviews mit Zeitzeugen (übernommen aus dem großen Visual History Archive des Shoah Foundation Institute) zu finden, didaktisch aufbereitet für Schüler und Studierende.

Politiker und die Kirchen verwiesen in ihren Stellungnahmen zur Pogromnacht darauf, dass aktuell – genährt durch die Corona-Pandemie – eine Zunahme antisemitischer und rechtsextremer Aktionen und Übergriffe festzustellen ist.

Parteivertreter mahnen zu Wachsamkeit

Seitens der SPÖ mahnten Parteichefin Pamela Rendi-Wagner und Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch deshalb zu "Wachsamkeit im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus". "Wir müssen aus der Geschichte lernen und die richtigen Konsequenzen ziehen", plädierte Rendi-Wagner für eine "lebendige Gedenkkultur". Und es gelte, "unsere freie, demokratische Gesellschaft jeden Tag aufs Neue zu verteidigen". Deutsch forderte die Regierung auf, den Aktionsplan gegen Rechtsextremismus rasch unter Einbeziehung von Wissenschaftern auszuarbeiten und umzusetzen.

FPÖ-Chef Herbert Kickl bekräftigte anlässlich des Pogromgedenkens die Forderung, die "Spaltung der Gesellschaft in Gute und Böse durch eine freiheitsberaubende und schikanöse Corona-Politik" raschest zu überwinden. "Für Antisemitismus darf es in Österreich keinen Platz geben. Jedweder Form von Antisemitismus muss daher rasch und entschieden entgegengetreten werden", betonte er in einer Aussendung. Die ermordeten, vertriebenen und gedemütigten jüdischen Mitbürger sollten "immer eine Mahnung, ihr Andenken eine selbstverständliche Verpflichtung sein, um Derartiges nie wieder in Österreich aufkommen zu lassen", erklärte Kickl – und ergänzte unter Kritik am "2G- und 3G-Regime": "Unsere Zeit hat heute neben der Notwendigkeit des 'Niemals wieder' jedweder Form des Antisemitismus auch ihre ganz speziellen eigenen Herausforderungen für den Erhalt von Freiheit, Demokratie und Menschenwürde."

"Gerade in der aktuellen Zeit muss jeder Form der Spaltung unserer Gesellschaft mit offenem Dialog entgegnet werden", merkte Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger an. "Tagtäglich" gelte es, sich gemeinsam um die Demokratie zu kümmern. Der Pogromnacht ging "ein vergiftetes gesellschaftliches Klima der Intoleranz und des Hasses voran, welches schließlich in unvorstellbarer Gewalt gipfelte. Wir dürfen es nie wieder so weit kommen lassen", sagte Meinl-Reisinger – und appellierte: "Jeden Tag sind wir alle aufs Neue gefordert, gegen Hass, Antisemitismus, Rassismus, Mobbing und Ausgrenzung aufzustehen."

Aktivisten überklebten Straßentafeln

Der Antisemitismus sei "in verschiedenen Formen wieder stark im Zunehmen", stellte der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) in einer Erklärung zum Pogromgedenken fest – und warnte vor jedem Wegschauen oder Verharmlosen. "Politik, Exekutive, Justiz und Zivilgesellschaft – dazu gehören auch die Kirchen – sind aufgefordert, vehement gegen Antisemitismus aufzutreten und einzuschreiten." Es gelte, wachsam zu sein "gegenüber jeglicher Form von Politik, die auf Abwertung und Ausgrenzung von Minderheiten setzt".

Mit einer nächtlichen Aktion machten jüdische Aktivisten und Aktivistinnen darauf aufmerksam, dass in Wien noch immer Straßen nach aktiven NSDAP-, SS- oder SA-Mitgliedern bzw. offensiv antisemitischen Personen benannt sind. Sie überklebten 23 Straßentafeln mit Namen von Widerstandskämpfern, berichteten die Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen (JöH) in einer Aussendung – und forderten unter Kritik daran, dass die Stadt Wien nur kleine Zusatztafeln angebracht habe, die offizielle Umbenennung. (APA, 9.11.2021)