Eine moderate Impfpflicht würde auch keine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben darstellen, sagt der Jurist und Völkerrechtler Ralph Janík im Gastkommentar und verweist auf ein EGMR-Urteil vom April 2021.

Herbert Kickl, FPÖ-Chef und Ex-Innenminister, kritisiert die Maßnahmen der Regierung nicht nur in vergleichsweise harmloser Reimform.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Nach monatelangem Zaudern hat die Bundesregierung nun also eine 2G-Regel auf den Weg gebracht: Ohne Impfung gibt es keinen Zugang zu Gastronomie, Veranstaltungen oder körpernahen Dienstleistungen. Manche Anwälte dürften ihre juristischen Messer schleifen, um (lautstark) dagegen vorzugehen.

Zeitgleich reibt sich die FPÖ, nicht gerade für ihre zurückhaltende politische Rhetorik bekannt, ihre Hände und spricht nun von einer "Treibjagd" auf Ungeimpfte oder von "Impfvergewaltigung". Auf Instagram schreibt Parteichef Herbert Kickl gar von einer "Schutzhaft für Ungeimpfte", die "an die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte erinnert". Bei diversen Corona-Demonstrationen tragen manche Teilnehmer sogar einen gelben Judenstern, auf dem "ungeimpft" steht.

Angesichts der Geschmacklosigkeit derartiger Vergleiche gilt es aus rechtlicher Sicht festzuhalten, dass Ungeimpfte keine gesetzlich geschützte Gruppe sind. Das Gleichbehandlungsgesetz etwa verbietet lediglich Diskriminierungen wegen des Geschlechts, des Alters, der sexuellen Orientierung, der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit oder der Weltanschauung.

Fehlender Zusammenhang

Zwar kann man allenfalls die Gedanken- und Gewissensfreiheit in Betracht ziehen, zumal der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hier fallweise recht weit ging: So hat er neben alten (Welt-)Religionen und jüngeren religiösen Gruppierungen selbst philosophische Weltbilder wie Pazifismus, Veganismus oder Säkularismus, aber auch alternative Heilmedizin oder die Ablehnung von Abtreibung oder gleichgeschlechtlichen Ehen unter den Schutz der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention gestellt. Dennoch gelten auch hier Grenzen: So muss die jeweilige Überzeugung "hinreichende Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Bedeutung" aufweisen – und eine solche fehlt Impfkritikern laut einer EGMR-Entscheidung vom April 2021.

Zwar ging es in diesem Urteil selbstredend nicht um Corona-Impfungen, sondern – wie der Gerichtshof betonte – um gut erforschte Krankheiten, darunter Diphtherie, Tetanus, Masern, Mumps, Hepatitis B oder Keuchhusten. Die Auswirkungen auf etwaige Klagen im Zusammenhang mit Impfstoffen wie Comirnaty, Vaxzevria oder Spikevax waren dem EGMR jedoch allein aus zeitlichen Gründen offensichtlich bewusst, obendrein hat Frankreich eine Stellungnahme eingebracht, die explizit auf die Covid-19-Pandemie einging.

Vor diesem Hintergrund lässt sich die EGMR-Entscheidung auch auf Coronavirus-Impfverweigerer umlegen – umso mehr, als Menschen sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht impfen lassen wollen (wie auch FPÖ-Vertreter selbst immer wieder betonen): Von der Sorge vor allergischen Reaktionen gegen einzelne Substanzen der Impfstoffe über die (unbegründete) Angst vor Unfruchtbarkeit bis hin zu Verschwörungstheorien von genetischer Reprogrammierung, gezielter Massentötungen oder dem Einsetzen von Mikrochips ist alles dabei. Ein stimmiges und in sich geschlossenes Argumentationsgebäude sieht jedenfalls anders aus.

Körperliche Integrität

Wesentlichere grund- und menschenrechtliche Einwände gegen 2G und eine "Impfpflicht durch die Hintertür" liegen daher woanders, beispielsweise beim Recht auf Privat- und Familienleben in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, das auch die körperliche Integrität umfasst. Allerdings gilt dieser Schutz nicht absolut, vielmehr darf er gemäß Absatz 2 "zum Schutz der Gesundheit … oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer" eingeschränkt werden. Grundvoraussetzung ist dabei die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit. Der EGMR gelangte im soeben genannten Urteil daher zu dem Schluss, dass eine moderate Impfpflicht für Kinder, konkret durch milde Geldstrafen für die Eltern und den Ausschluss von Kindergärten/Vorschulen, keine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben darstellt.

Gut möglich, dass das Gericht in Straßburg – und vor ihm jedenfalls der Verfassungsgerichtshof – sich früher oder später auch mit Covid-19-Impfungen auseinandersetzen muss. Ob und inwieweit sie Erfolg haben, darf angesichts der jüngsten Rechtsprechung infrage gestellt werden – wiewohl, so viel Absicherung vor juristischen Fehlprognosen muss sein, alles vom konkreten Fall abhängt. Dass Ungeimpfte nicht "gejagt" oder gar "vergewaltigt" werden, steht allerdings schon jetzt fest. (Ralph Janík, 10.11.2021)