Mit 29 Jahren scheint Édouard Louis seinen Frieden mit seiner tristen Kindheit zu machen. Sein neues Buch ist weniger politische Anklage als späte Liebeserklärung.

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Édouard Louis' neues Buch Die Freiheit einer Frau ist bedeutend schmäler als seine bisherigen über sein eigenes Aufwachsen im proletarischen französischen Arbeitermilieu (Das Ende von Eddy, 2014) sowie seine Vergewaltigung (Im Herzen der Gewalt, 2016). Nur knapp 100 Seiten umfasst der Band Die Freiheit einer Frau über das Leben seiner Mutter Monique. Weil Annie Ernaux über die Unterdrückung der Frauen schon so viel und klar geschrieben hat? Vielleicht. Andererseits zählt Wer hat meinen Vater umgebracht (2018) noch weniger Seiten.

Alles beginnt diesmal mit einem Selbstporträt seiner Mutter als junger Frau, das Louis in die Hände fällt: Verführerisch und locker hat sie sich auf dem Foto festgehalten. Es durchfährt Louis: "Ich glaube, ich hatte vergessen, dass sie vor meiner Geburt frei war." So hatte er sie als Kind nie erlebt. Nur Demütigung und Armut hatte ihr die 20 Jahre lange Ehe mit Louis’ Vater gebracht.

Fokus auf private Umstände

Der inzwischen 29-jährige Erfolgsautor setzt mit dem Buch fort, was ihn berühmt gemacht hat: Er blickt einmal mehr auf die Lesern schon bekannten, bedrückenden Umstände seiner Jugend. Aber der Blickwinkel hat sich verschoben: Nachdem er die Schuld bisher beim politischen System und struktureller Benachteiligung gesucht hat, die seine Familie hart gemacht haben, sucht er sie nun im Privatleben.

Dort beginnt das Unglück seiner Mutter früh. Die Tochter einer Hausfrau und eines Arbeiters will Köchin werden, muss die Lehre aber abbrechen, weil sie schwanger wird und der Kindsvater ihr die Abtreibung verbietet. So wird sie mit 18 Jahren "Mutter und Hausfrau". Mit 23 wird sie ihn verlassen, einziger Ausweg ist aber ein nicht besserer Mann: Édouard Louis’ Vater. "Sie hatte keine andere Wahl, oder sie dachte, sie hätte keine, die Grenze dazwischen ist schwer zu bestimmen."

Scham und Hass

Anekdotenhaft skizziert der Autor nun Szenen. Etwa dass er sie von Schulaufführungen immer ebenso fernhielt wie von Elternabenden. "Ich wollte nicht, dass du wusstest, wer ich bin", schreibt er retrospektiv. Oder er erinnert sich, wie sie wochenlang gegen die Lächerlich machung durch die Familie darum rang, dank staatlicher Unterstützung auf Urlaub fahren zu können. Einmal verleugnet er sie vor einer Freundin. Nicht nur sein Vater, auch er ist mit schuld an ihrer Misere.

Dass er als Mann über eine Frau schreibt und ob er ihr also gerecht werden kann, ist Louis als Umstand bewusst. Dass er schwul ist und sich als frei von typisch männlichem Gebaren sieht, erlebt er jedoch als eine "Ortlosigkeit meines Wesens", die er zu seinen Gunsten auslegt. Die gegenseitige Abhängigkeit der Eltern peitscht deren Aggression gegeneinander nur höher. Als Zwillinge geboren werden, ist die Familie auf Essensspenden angewiesen.

"In meiner Kindheit schämten wir uns zusammen. Jetzt schämte ich mich deiner", begleitet in Louis’ Wahrnehmung seinen Übertritt aufs Gymnasium. Ab nun verlässt er die Welt seiner Eltern. Als die Mutter ihn Jahre später fragt, ob sie bei ihm für Geld putzen dürfe, fragt er sich, ob er ein Teil der einst von ihm verabscheuten Elite geworden ist.

Entschuldigung statt Anklage

Sozialpolitische Anklagen führt Louis nicht mehr im Mund. Er erzählt eine individuelle Befreiung aus privatem Unglück. Diesen Eindruck bestärkt der im September (und bisher nur auf Französisch) erschienene Band Changer: méthode, in dem Louis seinen Aufstieg in die gute Gesellschaft bestaunt. Statt auf repressive Struktur fokussiert er auf eigenständige Entscheidungen und Glücksfälle (wohlmeinende Lehrer), die sein Leben verändert haben.

Heute ist das Verhältnis des Autors zu beiden Eltern freundlich. Maßgeblich dafür ist so ein Akt der Selbstbehauptung: die Selbstbefreiung der Mutter aus 20 Ehejahren. Sie lebt nun mit ihrem dritten Mann glücklich und bescheiden in Paris. "Ich schreibe, um das Leben meiner Mutter (...) zu verstehen", hält Louis fest. Das Ergebnis liest sich im Wechsel aus "Ichs" und "Du"-Anreden wie eine späte Entschuldigung und Liebeserklärung. (Michael Wurmitzer, 11.11.2021)