"Impfpflicht durch die Hintertür" nennen manche FPÖler die neue 2G-Regel, die Ungeimpfte von den meisten Freizeitaktivitäten aus-schließt. Hintertür oder Vordertür – Hauptsache, es wirkt. Denn den Begriff "Impfpflicht" oder gar "Impfzwang" haben Regierung wie Opposition bisher vermieden wie der Teufel das Weihwasser. Warum eigentlich?
Im Interesse des Gemeinwohls werden wir jetzt schon zu allen möglichen Dingen gezwungen. Wir müssen Steuern zahlen, wir müssen uns an die Straßenverkehrsordnung halten, wir dürfen nachts keinen Lärm machen, um die Nachbarn nicht zu stören. Für den Mutter-Kind-Pass sind mehrere Untersuchungen als Voraussetzung für den Bezug des Kindergelds verpflichtend. Niemand hat etwas dagegen. Nur beim Impfen gegen Corona rufen Tausende erbittert "Diktatur" und "Grundrechte", nicht zuletzt jene, die sich sonst nicht gerade als Kämpfer gegen Diktaturen und für die Menschenrechte hervortun.
Was vereint Rechtsradikale, Naturapostel, Esoteriker und religiöse Fundamentalisten bei ihrem Kampf gegen das Impfen? Vor allem wohl der instinktive Widerwille gegen "die Obergscheiten da oben", gegen Experten, gegen Wissenschaft, Vernunft, Sachlichkeit. Das hat Tradition. In der Ersten Republik gab es verbreiteten Widerstand gegen die "verjudete Medizin". Der christlich-soziale Abgeordnete Hermann Bielohlawek wurde berühmt mit dem Satz "Wissenschaft ist, was ein Jud vom anderen abschreibt".
In der Nazizeit wurde die Hitlerjugend zum Heilkräutersammeln eingeteilt. Als zwölfjährige Jungmädeln fanden wir es damals witzig, bei solchen Gelegenheiten "Heil Kräuter!" zu rufen, in Anlehnung an "Heil Hitler!" Ob mit unseren Heilkräutern irgendjemand geheilt wurde, ist nicht bekannt.
In den letzten Monaten haben Mediziner und Virologen aus der ganzen Welt uns gefühlte tausendmal erklärt, dass Impfen das einfachste und wirkungsvollste Mittel gegen die Pandemie ist, dass es hilft und nicht gefährlich ist. Herbert Kickl findet die Krankheit trotzdem nicht so schlimm und empfiehlt, wenn es denn sein muss, Pferde-Entwurmungsmittel. Es ist nicht vorstellbar, dass er und seinesgleichen sich eines Besseren belehren lassen, wenn die immer gleichen Argumente noch weitere tausendmal wiederholt werden.
Die weniger hartnäckigen "Zauderer und Zögerer" sind immerhin zum Einlenken bereit, wenn sie ohne 2G nicht ins Wirtshaus und zum Friseur dürfen. Aber nach wie vor beharren die politisch Verantwortlichen auf dem Mantra Eigenverantwortung und Überzeugung, kein Zwang. Und keine Spaltung der Gesellschaft. Lassen wir uns durch die FPÖ in Geiselhaft nehmen? Impfpflicht durch die Hintertür ja, durch die Vordertür nein. Inzwischen steigen die Infektionszahlen, die Intensivstationen füllen sich, das Pflegepersonal ist am Rande seiner Kräfte. Und immer mehr Patienten leiden und sterben.
Ohne Zweifel würde eine Impfpflicht einen Aufschrei bei den Impfgegnern auslösen. Aber viele Bürger würden auch erleichtert aufatmen und sagen: endlich. War auch höchste Zeit. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 11.11.2021)