Foto: DER STANDARD/Pichler

Die Coronavirus-Pandemie hat mir – nicht ganz freiwillig – die Gelegenheit verschafft, neue Indoor-Hobbies zu erforschen. Ein Resultat der gerade wieder anbrechenden Homeoffice-Ära war mein Einstieg in den 3D-Druck. Ein anderes ist mein Einstieg in die Welt der Pen-&-Paper-Rollenspiele.

Nach jahrelangem Zögern traute ich mich dann schließlich doch, mich einer Gruppe von Freunden anzuschließen und dieser doch spezielleren Spielform eine Chance zu geben. Als einfacher Teilnehmer ist das auch relativ angenehm. Man denkt sich nach Maßgabe der Spielwelt einen Charakter aus, füllt, begleitet von helfenden Erklärungen erfahrener Spieler, seinen Charakterzettel für das jeweils gerade zum Einsatz kommende Spielsystem aus und stürzt sich ins Abenteuer.

Mit großer Macht kommt große Verantwortung

Den Großteil der Last stemmt der Gamemaster, also die arme Seele, die nicht nur durch die Handlung führt, sondern auch die Einhaltung des Regelwerks gewährleisten und aufmüpfige Spieler im Zaum halten muss, mit denen die Fantasie etwas durchgeht. Er ist quasi der Regisseur eines, in Ermangelung treffenderer Worte, interaktiven Theaterstücks mit Würfeln.

Begleitet von mindestens zwei bis drei dicken Büchern, Übersichtskarten und anderem Material hält er die Meute bei Laune, balanciert den Grad von Herausforderungen und gibt gleichzeitig den Improvisationskünstler, wenn wieder einmal der Rahmen der gerade gespielten Kampagne gesprengt wird. Und will ein Spieler sich mal so gar nicht an die Regeln halten, muss auch mal ein Machtwort gesprochen oder ein "Unfall" ins Geschehen integriert werden. Der Gamemaster ist Moderator, Motivator und Diktator in einem, und es ist nicht immer eine dankbare Aufgabe.

Die meisten der abgebildeten Würfel werden nicht gebraucht. Gespielt wird entweder mit einem Zwölfseiter oder zwei Sechsseitern (dann mit leichten Anpassungen).
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Leichter Einstieg gesucht

In den vergangenen Monaten habe ich mir die Frage gestellt, ob das alles wirklich so aufwendig sein muss, mir verschiedene Systeme angesehen und schließlich entschieden – Größenwahnsinn Galore –, mein eigenes System zu entwickeln. Das Ziel: ein simples Regelwerk nebst einem Basisszenario zu bieten, in dem man Abenteuer leiten kann, ohne vorher gefühlt ein Bachelorstudium dafür absolviert zu haben.

Es soll für alle Beteiligten vergleichsweise leicht erlernbar sein sowie sich mit regulären, sechsseitigen Würfeln (im Rollenspieljargon auch "D6" bezeichnet) spielen lassen, da diese praktisch in jedem Haushalt vorhanden sind. Und vor allem soll es Gamemastern die Möglichkeit bieten, sich auf das meiner Meinung nach wichtigste Element von Pen & Paper konzentrieren zu können: das Erzählen von Abenteuern.

Zehn Seiten statt dicken Wälzern

Eine detaillierte Erklärung meines Systems würde hier den Rahmen sprengen, aber es setzt auf ein paar vordefinierte Klassen, die sich in ihren sieben Basiswerten, ihren Start-Items, einzigartigen Boni und Mali sowie einer jeweils individuellen aktiven und passiven Fähigkeit für Kämpfe unterscheiden. Andere Systeme arbeiten üblicherweise mit wesentlich mehr Attributen, alleine "Dungeons & Dragons" definiert dutzende Sonderfertigkeiten und seitenlange Spezialisierungsanleitungen für jede Klasse.

Das ermöglicht natürlich die individuellere Entwicklung des eigenen Helden, jedoch auf Kosten der Zugänglichkeit. Und alleine der bloße Gedanke, ständig in einem dicken Wälzer die eigenen Möglichkeiten nachlesen zu müssen, hat ein nicht zu unterschätzendes Abschreckungspotenzial. Mein System wird zwar noch "wachsen", passt aber inklusive Klassendefinitionen derzeit auf zehn Seiten in Schriftgröße elf.

Unerwartet gute Special Effects

Vor kurzem, es war ein Freitagabend, feierte es Premiere. Drei gute Freunde waren in mein Wohnzimmer zum Playtest geladen. Aus unerfindlichen Gründen brach 20 Minuten vor Eintreffen des ersten Gastes mein Badezimmerschrank zusammen. Und kurz bevor es ans Eingemachte ging, fing auch noch eine Teelicht-betriebene Duftlampe ohne Fremdeinwirkung lichterloh zu brennen an. Beides verlief glimpflich und passte wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, zumal die von mir vorbereitete Kampagne mit einer aufgesprengten Wand, Brandspuren und – erraten – einem zusammengebrochenen Schrank begann.

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Sie entführt die Spieler in eine alternativgeschichtliche Steampunk-Version des Jahres 1910 mit Anleihen bei realen Ereignissen und bekannten historischen Persönlichkeiten. Europa ist in drei Machtblöcke – England, Russland und eine von Indien angeführte Allianz – geteilt. Wien befindet sich im Grenzland der Kontrahenten, und nach vielen Jahren Krieg soll in der nunmehr zu England gehörenden österreichischen Hauptstadt eine Friedenskonferenz stattfinden.

Doch freilich läuft das nicht nach Plan. Noch bevor sich die Machthaber zusammensetzen, findet ein Attentat auf den britischen Premier Ramsay Macdonald statt, der mit seinem Außenminister Winston Churchill nach Wien gekommen ist. Die drei Spieler – ein Barkeeper, ein Nachtwächter und ein Träumemacher (Hersteller und Verkäufer von Drogen in Personalunion) – werden in die Ereignisse hineingezogen und begeben sich auf die Spur der Attentäter.

Premiere mit wenig Pannen

Die von mir befürchtete Totalkatastrophe – je näher der Termin rückte, desto mehr zweifelte ich daran, dass es eine gute Idee ist, als Anfänger das erste Mal als Spielleiter gleich mit einem selbst entwickelten System zu bestreiten – blieb aus. Zwar gab es ein paar holprige Momente, doch im Laufe des Abends wurde das Regelwerk immer mehr zur "Beiläufigkeit" und die Erzählung und Interaktion unter den Spielern zum eigentlichen Event. Das heißt nicht, das alles völlig problemlos ablief, aber im Großen und Ganzen bestand das System seine Feuerprobe.

Was die Sache erleichterte, ist, dass sich die Teilnehmer Mühe gaben, ihre Charaktere gemäß der von ihnen erstellten Kurzbiografie glaubwürdig zu verkörpern. Das brachte das Abenteuer an einer Stelle aber kurzfristig auch fast zum Erliegen. Denn nach dem ersten Kampf mit den Attentätern sahen weder der mit seinem Leben hinter der Theke eigentlich recht zufriedene Barkeeper noch der opportunistisch-risikoaverse Träumemacher mit Schmutzphobie keine große Veranlassung, die Spur der Angreifer aufzunehmen.

Einzig der Nachtwächter mit umfassender Kriegserfahrung – gespielt von einem erfahrenen Gamemaster – war begeistert davon, endlich wieder auf jemanden schießen zu können. Erst die Aussicht auf den Verkauf politischer Geheimnisse für viel Geld bewog den Träumemacher zum Umdenken, während der Schankwirt die Tragweite der Ereignisse für seine Heimatstadt zu realisieren begann.

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Im weiteren Verlauf des netto vier Stunden dauernden Trips machte die Truppe einen Ausflug in die Wiener Kanalisation, provozierte grundlos eine Horde Ratten, baute eine improvisierte Brücke über einen großen Abwasserkanal und fand schließlich dank Informationen eines Obdachlosen heraus, wo die Attentäter verkehren. Als Belohnung gab es das erste Level-up. Teil zwei der Kampagne muss erst noch geschrieben, doch wie es aussieht – Spoileralarm –, wird das Heldentrio eine Kostümparty infiltrieren müssen.

Das Abenteuer geht weiter

Der Abend ermöglichte es mir auch, ein paar Schwächen zu identifizieren. Insbesondere das Kampfsystem litt an der etwas zu drastischen Vereinfachung, was manche Abläufe in Auseinandersetzungen wenig glaubwürdig machte. Das Feedback der Spieler ist bereits in erste Überarbeitungen eingeflossen, die sich in wenigen Monaten in der zweiten Session bewähren müssen. Zudem müssen die Charakterzettel dringend überarbeitet werden.

Auch Ergänzungen – etwa in Bezug auf Spezialschäden – sind noch vorzunehmen, doch ich bin zuversichtlich, dass mein System am Ende eine für Neueinsteiger gut bewältigbare Lernkurve bieten wird. Gedacht ist es freilich nicht als Konkurrenz zu etablierten Größen wie "Dungeons & Dragons" oder "Pathfinder", sondern vielmehr als "Einstiegsdroge" in ein Hobby, das Kreativität fördert und fordert sowie Spieler sanft dazu zwingt, sich auf eine neue Perspektive einzulassen.

Wenn (falls) mein System einmal in all seinen Grundzügen fertig ist, plane ich, es mitsamt dem Basisszenario und der ersten Kampagne kostenlos unter nichtkommerzieller Lizenz zu veröffentlichen. Bis dahin werden jedoch der Barkeeper, der Träumemacher und der Nachtwächter noch das eine oder andere Abenteuer bestreiten. (Georg Pichler, 11.11.2021)