Seit dem Beginn der Pandemie demonstrieren Menschen gegen die Corona-Maßnahmen.

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Während die Impfquote in Deutschland, Österreich und der Schweiz weiterhin unter 70 Prozent liegt, ist sie in Spanien, Portugal oder Island deutlich höher. Woran das liegt, welchen Einfluss die 68er-Bewegung, esoterische Strömungen und Waldorfschulen darauf haben, erklärt der Schweizer Soziologe Oliver Nachtwey.

STANDARD: Österreich, Deutschland und die Schweiz haben in Westeuropa die niedrigste Impfquote. Warum?

Nachtwey: Es handelt sich prinzipiell um industrialisierte Länder mit einem starken Föderalismus und einem schwachen Zentralstaat. Diese Staaten haben aber auch kulturelle Gemeinsamkeiten. Ich forsche derzeit zu Corona-Protesten in diesen drei Ländern. Meine Untersuchungen zeigen, dass in den Protestmilieus Anthroposophie, Esoterik und antiautoritäres Denken, wie man es aus den linksalternativen Protestmilieus der 1980er-Jahre kennt, häufig zusammen auftreten. Diese Leute wollen sich alle auch nicht impfen lassen. Einen kleinen Unterschied gibt es allerdings: In Österreich sind die Menschen autoritärer, was unter anderem daran liegt, dass es dort seit langem eine starke FPÖ gibt. Unsere Forschung steht aber immer noch am Anfang.

STANDARD: Sie sprechen die Esoterik und Alternativmilieus an. Was meinen Sie damit?

Nachtwey: Als Folge der 1968er-Bewegung haben sich Alternativmilieus in Deutschland, Österreich und der Schweiz gebildet. Man wollte sich vom konformistischen Massenarbeiter der 50er- und 60er-Jahre abheben. Diese haben eine andere Form der Lebensführung angestrebt. Man hat nach Authentizität gesucht, hat eine Körper-Bewusstseins-Politik gemacht. Das waren zuvor zwar linke Milieus, aber viele hatten sich von den Linken verabschiedet und sich auf eine innere und äußere Selbstverwirklichung orientiert.

Es ging um Esoterik und Spiritualismus. Man hat seine Kinder auf Waldorfschulen geschickt, wo nicht dem staatlichen Bildungswesen gehorcht wird. Alternative Medizin war im Trend. In Deutschland sind die größten Biokonzerne wie Demeter anthroposophische Netzwerke. Dort gibt es immer diesen spirituellen Mehrwert in den Produkten. Es geht in diesen Strömungen vor allem um eine Form von Ganzheitlichkeit, Selbstverwirklichung und Körpersouveränität. Und das Impfen wird nun als autoritärer Eingriff des Staates wahrgenommen. Die Tragik ist: Mit "My Body my Choice" wird etwa ein wichtiger Slogan der Frauenrechtsbewegung vereinnahmt. Im Grunde geht es um radikalen Individualismus. Und Impfen als solidarischer Akt wird dann nicht wahrgenommen.

Der Schweizer Soziologe Oliver Nachtwey sagt, dass es Impfverweigerern um radikalen Individualismus geht.
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STANDARD: Sie haben Waldorfschulen erwähnt. In Deutschland gibt es 236, in der Schweiz 32 und in Österreich 21. Haben die so einen großen gesellschaftlichen Einfluss?

Nachtwey: Sie können sich Baden-Württemberg anschauen. Das ist in Deutschland der Hotspot der Querdenker-Bewegung. Gleichzeitig gibt es dort mehr als 50 Waldorfschulen. Also knapp ein Viertel aller Waldorfschulen in ganz Deutschland. Viele prominente Querdenker kommen genau aus der Szene, etwa Ken Jebsen.

STANDARD: Was Sie da allgemein beschreiben, ist eine gewisse Wissenschaftsfeindlichkeit oder -kritik. Ist die in deutschsprachigen Ländern stärker ausgeprägt als in anderen Ländern Westeuropas?

Nachtwey: Nein, nicht unbedingt. Ich würde eher sagen, dass die Wissenschaftlichkeit einer Gesellschaft eine "Unterseite" produziert hat. Also ein Bedürfnis, der spirituellen Obdachlosigkeit zu entkommen. Wir sehen bei den Corona-Protesten ja viele Menschen, die hochqualifiziert sind. Da haben viele einen Universitätsabschluss. Denen fehlt es eigentlich nicht an Bildung. Sie hätten die Fähigkeit, wissenschaftliche Expertisen zu sehen. Was sie aber haben, ist eine starke Autoritätsskepsis. Und gleichzeitig trauen sich diese Menschen zu, aufgrund ihrer teils hohen Bildung, Wissenschaft selbst zu beurteilen.

STANDARD: Meinen Sie damit eine "Wissenschaftserhabenheit"?

Nachtwey: Karl Popper hat ja vereinfacht gesagt: Eine wissenschaftliche These ist dann widerlegt, wenn es eine Falsifizierung gibt. Und diese Leute haben das verinnerlicht und sagen: "Wir können es ja falsifizieren, weil es die eine Studie von Bhakdi gibt." Der wissenschaftliche Konsens wird mit einem "legitimierten Gegenwissen" ausgehebelt. Das sind ganz oft schlichtweg Fake-News. Aber diese Evidenz wird genutzt, um das große Ganze infrage zu stellen.

STANDARD: Wenn wir schon bei der Verachtung von Wissenschaft sind. In Österreich wird gerade der Salzburger Landeshauptmann kritisiert. Er meinte, Virologen würden uns am liebsten einsperren und verhungern lassen. Verwundert Sie das?

Nachtwey: Das verwundert mich gar nicht. Eine weitere Gemeinsamkeit von Österreich, Deutschland und der Schweiz ist die Etablierung von starken rechtspopulistischen Parteien. Wenn wir wieder zu den Alternativmilieus zurückgehen: Die werden heute ganz stark von rechts bewirtschaftet. Solidarität wird verweigert, gleichzeitig werden Wissenschaftssysteme angegriffen. Das ist auch ein Phänomen, das wir durch rechte Politik in den USA sehen. Während die Wissenschaft nach der Wahrheit sucht, streuen sie Fake-News und befördern Vorurteile.

STANDARD: Haben Sie Lösungsansätze, wie wir aus dem Dilemma wieder herauskommen?

Nachtwey: Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten gesehen, dass sich unsere Gesellschaften immer mehr beschleunigen. Corona hat unser Verhalten blitzschnell geändert. Aber auch andere Normen haben sich geändert: Geschlechternormen, Arbeitsnormen. Wir müssen alle leistungsfähig und hochproduktiv sein. In dieser ständigen Beschleunigung gehen viele Normen verloren. Wir müssen ein Umfeld erzeugen, wo wir mehr Zeit haben, gesellschaftliche Konflikte auszutragen. Eine drastische Arbeitszeitkürzung könnte helfen, dass wir uns wieder mehr informieren, einander zuhören und diskutieren. Aber letztlich wird es keine Einzelmaßnahmen geben, die diese Probleme lösen können. (Matthias Balmetzhofer, 12.11.2021)