Unser demokratisches Universum hat in letzter Zeit zwei massive Erschütterungen erfahren. Die eine Erschütterung teilen wir mit dem Rest der Welt – nämlich die Pandemie samt den sogenannten "Querdenkern" in ihrem Schlepptau. Die zweite Erschütterung aber gehört uns ganz exklusiv: das harte Aufprallen des sogenannten "Systems Kurz" an der Öffentlichkeit. Diese demokratischen Notfälle, oder um mit Angela Merkel zu sprechen: diese demokratischen Zumutungen ereilen uns nahezu zeitgleich.

Es gibt da eine berühmte Geschichte über den Physiker Niels Bohr: Ein Kollege, der ihn in seinem Landhaus besuchte, stellte überrascht fest, dass ein Hufeisen an der Tür hing. Erstaunt fragte er den Physiker: Glauben Sie denn daran, dass so ein Hufeisen die bösen Geister vertreibt und Glück bringt? Der Naturwissenschaftler Bohr antwortete: "Natürlich glaube ich nicht daran. Aber es hängt da, weil man mir gesagt hat, dass es auch wirkt, wenn man nicht daran glaubt."

Einer, der diese Geschichte besonders liebt, ist Slavoj Žižek. Žižek zieht diese Anekdote heran, um darzustellen, wie Demokratie heute funktioniert: "Kein Mensch nimmt Demokratie oder Gerechtigkeit mehr ernst, wir alle wissen um deren Korruptheit, dennoch praktizieren wir sie, weil wir annehmen, dass sie auch wirken, wenn man nicht an sie glaubt." Das ist pointiert, aber hat Žižek da recht?

Demokratie ist zweierlei: eine Regierungsform und ein Mythos. Demokratie ist eine Regierungsform: mit ihren Verfahren, ihren Institutionen und ihren Regeln. Die Realität einer Regierungsform also. Demokratie aber braucht noch etwas anderes – nämlich einen Glauben. Den Glauben an Souveränität, an Legitimität, an eine Vorstellung von Gerechtigkeit und von gerechter Herrschaft. Dieser Glaube ist der Mythos der Demokratie. Damit ist kein falscher Mythos gemeint, den es aufzuklären gilt – sondern ein notwendiger Mythos. Ein Mythos, der sie stützt, der sie bestimmt. In diesem Sinne ist Demokratie also Realität und Mythos zugleich.

Schattenspiel

Was nun die Realität der Regierungsform anlangt, so haben wir hier in Österreich unmittelbar erlebt: Die demokratische Regierungsform kann auch bloß instrumentell gebraucht werden – als Fassade, als PR-Tool, als Machtinstrument. Demokratie wird dann zum Schattenspiel, bei dem wir verwandelt werden: Aus Bürgern werden wir zum Publikum. Ein Schattenspiel hinter dem Machtmissbrauch und Manipulation, die Realität der Demokratie korrumpieren kann.

Einerseits. Andererseits haben wir auch gesehen, dass die Justiz intervenieren kann. Dass solches Folgen haben kann, sogar zu Rück- oder Seitentritten führen kann. Dass also die Gewaltenteilung funktioniert. Auch wenn dann die Justiz ungewollt in die Situation kommt, politische Funktionen zu übernehmen. Wir haben auch gelernt: Wenn nichts mehr hilft, kann immer noch von irgendwo ein Video herkommen – und zum Wächter der Demokratie werden.

Charim: "Individuelle Freiheit, das ist unser Fetisch. Demokratie braucht heute einen anderen Mythos."
Foto: LCM/Monfort

Wenn Demokratie also die Realität einer Regierungsform ist (mit all ihren Defiziten) – was aber hat es dann mit dem Glauben auf sich? Ist es so, wie Žižek sagt: Keiner glaubt mehr an sie, weil jeder sie ohnehin für korrupt hält? Genau da muss man Žižek widersprechen.

Demokratie ist einer unserer zentralen Mythen. Demokratie ist heute unantastbar. Unantastbar aber ist das, was einer Gesellschaft heilig ist. Demokratie ist der Horizont unserer Moral – sie bestimmt unsere Werteskala zwischen demokratisch und undemokratisch. Sie ist unser Maßstab. Vor allem aber ist sie unsere Formel für Recht, für Ordnung. Die Formel zur Abwehr undemokratischer Schatten. Die Formel zum Einspruch gegen das Nichtdemokratische. Kurzum: Demokratie ist unsere Beschwörungsformel für alles Gute. Man könnte auch sagen: Die Rede von der Demokratie ist unser Fetisch.

Beschwörungsformel, Fetisch

Gleichzeitig aber gibt es den ständigen, nicht verklingenden, drängenden Chor jener, die uns zurufen: Die Souveränität des Volkes ist entleert. Dieser Inbegriff unserer Gesellschaft wird immer blasser. Demokratie – das ist eine ausgehöhlte Form. Inhaltsleer. Vage. Eine leere Formel, ein leeres Zeichen. Also was nun – Fetisch oder leer? Ausgehöhlte Form oder Heiligtum? Oder gar: Ist sie heilig, weil sie leer ist? Ein Fetisch, weil sie ausgehöhlt ist? Dann wäre Demokratie nur eine tote Form. Dann würde sie nicht funktionieren – auch nicht in Žižeks Sinn.

Tatsächlich muss man sehen: Dass sie unbestimmt ist, bedeutet nicht notwendigerweise, dass die Demokratie ausgehöhlt sei. Es bedeutet vielmehr, dass um ihre Bedeutung gerungen wird. Das heißt: Ihre Bedeutung ist veränderbar. Und genau das ist es, was wir derzeit feststellen können: Demokratie hat ihre Bedeutung verändert. Die Bedeutung des demokratischen Mythos hat sich verändert. Denn dieser meint heute: individuelle Freiheit. Der demokratische Mythos bedeutet heute individuelle Freiheit. Das ist weder eine völlige Entleerung noch eine völlige Absage – es ist vielmehr eine Verschiebung der Bedeutung: ein Ersatz-Mythos gewissermaßen. Demokratie als Mythos meint heute nicht mehr den Glauben an Gleichheit oder an Volkssouveränität. Es meint nur noch den Glauben an individuelle Freiheit. Individuelle Freiheit ohne das Versprechen einer Herrschaft des Volkes. Individuelle Freiheit ohne die Vorstellung einer Selbstgesetzgebung. In all diesen Konzepten einer kollektiven Macht findet man sich nicht wieder. Aber in der individuellen Freiheit schon. Darin besteht heute ihr Mythos: Demokratie wird zu einem Kurzschluss zwischen dem Ich und einem imaginären Demos.

Individuelle Freiheit – das ist unser Fetisch. Daran glauben wir. Es ist das, was heute für Demokratie steht. Wir mögen nicht an Demokratie im Sinne einer Regierungsform glauben. Wir mögen völlig abgeklärt darin nur Korruption sehen. Da hat Žižek recht. Aber dennoch glauben wir an den Mythos Demokratie. Dieser Mythos funktioniert nicht ohne Glauben. Wir glauben an unser demokratisches Hufeisen. Unabhängig von oder sogar gegen jede Realität.

Gütesiegel

Wir glauben an die Demokratie als Garant, als Gütesiegel unserer individuellen Freiheit. Sie ist es, die wir beschwören. Und genau das führt uns zur zweiten derzeitigen Erschütterung der Demokratie: der Pandemie.

Die Pandemie hat das Politische verändert. Sie hat eine verdeckte Schicht demokratischer Politik zutage gefördert: Das, was sonst von Debatten und Kompromissen überlagert war, das trat unverhüllt hervor – nämlich die Entscheidung. Die Pandemie hat eine sichtbare Rückkehr des Staates gebracht. So wie die Korruption die Demokratie von einer Seite angreift, greift die tatsächliche Entscheidung die Demokratie von einer anderen Seite an. So scheint es zumindest. Aber Entscheidung ist immer der Kern des Politischen. Auch in einer Demokratie. Sie ist nicht die Fratze der Demokratie, sondern deren Grundlage. Aber üblicherweise ist sie eine gezähmte Entscheidung. Eine gezähmte Entscheidungsgewalt. In der Pandemie aber trat diese blank in Erscheinung. Das war neu.

Lange Zeit galt etwa die Zivilgesellschaft als wichtiger politischer Player – als Hort und Garant der Demokratisierung. Aber ein Totalereignis wie eine Pandemie – also ein Ereignis, das alle Menschen, in allen Bereichen, das die ganze Gesellschaft in solch einer Wucht und in solchem Ausmaß und Gleichzeitigkeit betrifft –, solch ein Totalereignis lässt sich nicht mehr zivilgesellschaftlich regeln. Das erfordert einen Staat – dem somit neue Bedeutung zuwächst (nicht zuletzt weil das nächste Totalereignis schon da ist: der Klimawandel). Das ist eine heikle Veränderung.

Ein Credo der Neoliberalen besagt, dass es keiner 100 Prozent Konformität bedarf. Dass also die politischen Verhältnisse nicht von 100 Prozent der Bevölkerung getragen werden müssen. Aber dieses liberale Konzept versagt bei einem Totalereignis. Das erleben wir jetzt.

Genau da treten jene auf den Plan, die die politischen Verhältnisse nicht mittragen. Jene, die sich anfangs "Querdenker" nannten und nun als "Impfgegner" firmieren. Jene mit ihren Verschwörungstheorien. Hier soll es aber nicht um ihre Irrationalitäten gehen. (Obwohl das mit den Verschwörungstheorien verlockend ist – sind sie doch eine verzerrte Form, an das zu glauben, woran man kaum mehr glauben kann. In die Verschwörungstheorien hat sich der verlorene Glauben gerettet. Der Glaube an die Lenkbarkeit des Weltgeschehens, an die großen Subjekte, die wilde Pläne durchziehen können. Der Glaube an die eigene Kraft, solches zu "durchschauen". Ein verzerrter Glaube an die Aufklärung also.)

Symptom

Darum soll es hier nicht gehen. Hier soll es darum gehen, dass diese "Querdenker" noch etwas anderes sind – nämlich ein Symptom. (Jedenfalls dort, wo sie über den Rechtsextremismus hinausgehen.)

Sie treten im Namen der Demokratie auf gegen das, was sie eine "Diktatur" nennen. Diktatur, eben weil der Staat als Entscheidungsgewalt derart sichtbar geworden ist. Weil sich dessen Entscheidungsgewalt in Vorschriften wie Masken und in Aufforderungen zum Impfen manifestiert. So werden Masken und Impfungen zum Inbegriff, zum verhassten Inbegriff dieser Gewalt, die – in ihren Augen – eben nicht demokratisch sein kann. Warum? Weil diese Entscheidungsgewalt eben den demokratischen Mythos attackiert. Weil sie den Mythos der individuellen Freiheit antastet.

Der organisatorische, der medizinische Umgang mit einem Naturereignis ist das eine. Der politische Umgang damit aber ist etwas anderes. Die sogenannten Corona-Maßnahmen mögen effizient sein – oder nicht. Vernünftig – oder nicht. Chaotisch – oder nicht. Das ist nicht der Punkt. Den "Querdenkern" geht es darum, ob diese Maßnahmen demokratisch sind – oder nicht.

Und damit zeigen diese Verweigerer unbeabsichtigt eines: Undemokratisch sind die sogenannten Maßnahmen nicht im politischen Sinn, sondern im mythologischen Sinn. Eben weil sie den Mythos der individuellen Freiheit verletzen. Sie, die "Querdenker", lehnen die Realität der demokratischen Praxis im Namen des demokratischen Mythos ab. Und genau da wird dieser Wahn zum gesellschaftlichen Symptom. Zum Symptom, in dem etwas, eine Wahrheit, in verzerrter Form zum Ausdruck kommt: dass nämlich demokratische Realität und demokratischer Mythos kollidieren. Dass sie nicht mehr zusammengehen. Die neue Realität einer staatlichen Entscheidungsgewalt und der Mythos von der individuellen Freiheit weisen auseinander.

Kollision

Und diese Kollision weist in zwei Richtungen: Zum einen zeigt dieser Aufprall, dass die Regierungsform der Realität der Pandemie oft nicht angemessen ist. Zum anderen aber wirft diese Kollision auch die Frage auf: Taugt die individuelle Freiheit heute noch als zentrales Kriterium des demokratischen Mythos? Verwandelt sich in dieser Situation nicht die Bedeutung des Mythos, kippt nicht dessen Wert: aus einem ehemals demokratischen in einen nunmehr un-demokratischen? Verkehrt sich in solch einer Kollision nicht die Funktion des Mythos: aus einer Stütze der Demokratie in deren Hindernis?

An dieser Stelle muss man aufpassen: Der Ausgang aus der "Mythenhöhle", die Befreiung daraus, ist nicht dort, wo alle Schatten als Schatten entlarvt sind. Er ist nicht dort, wo alle Mythen enttarnt sind. Das ist nicht mit Aufklärung zu leisten. Denn Demokratie braucht einen Mythos. Die "Querdenker" zeigen uns in der verzerrten Form eines Symptoms deshalb etwas Entscheidendes. Sie zeigen uns: Demokratie braucht heute einen anderen Mythos. Nur von einem neuen Mythos aus lässt sich auch die neue Realität der Regierungsform beeinspruchen. Nur von einem neuen Mythos aus lässt sich die neue staatliche Entscheidungsgewalt befragen. Kritisieren. Kurzum: Demokratie braucht einen neuen Glauben, der sich nicht auf die individuelle Freiheit beschränkt. Einen Glauben, der dem harten Aufprall auf der unentrinnbaren gesellschaftlichen Realität jedes Einzelnen Rechnung trägt. Anders gesagt: Wir brauchen ein neues Hufeisen. (Isolde Charim, 13.11.2021)