Betritt man die Kinder- und Jugendpsychiatrien in Wien und Hall, wird einem nicht zuletzt durch die Einrichtung bewusst, wie jung die Patientinnen und Patienten zum Teil sind.

Foto: Regine Hendrich

In Wien gibt es auch einen Tischfußballtisch.

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Ab Anfang 2022 soll mehr Geld in die psychosoziale Versorgung von Jungen fließen.

Foto: Florian Lechner

In der Corona-Pandemie haben besonders viele Jugendliche eine Essstörung entwickelt.

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Bei den Mahlzeiten kracht es am ehesten. "Wenn eine denkt, sie hätte mehr bekommen als die anderen", erzählt Lea. Die 16-Jährige ist seit sechs Wochen Patientin auf der Essstörungsstation der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hall in Tirol, und sie hat es schon oft erlebt: Beim Blick auf die Teller wird verglichen, getuschelt und gepetzt. Niemand will mehr essen als unbedingt sein muss.

Heute gibt es Spaghetti mit Kräutersauce und Salat. Einige der Mädchen haben die Mahlzeit bereits hinter sich gebracht, sie sitzen vor der verglasten Küche und plaudern mit einem Pfleger. Durch die Fensterfront überblickt man Hall und das Inntal. Das Bild könnte harmonisch wirken – doch Leas Mitpatientinnen sitzen dort nicht nur für einen Plausch. Dreißig Minuten müssen sie nach jeder Mahlzeit vom Pflegepersonal überwacht werden, damit das Mittagessen nicht in der Kloschüssel landet. Dann, nach einer halben Stunde, hat der Körper den Großteil der Kalorien aufgenommen. Erbrechen würde sich nicht mehr lohnen.

Studio, Spielpatz

Wer den Neubau auf dem Haller Klinikgelände betritt, in dem die Kinder- und Jugendpsychiatrie seit 2017 beheimatet ist, der fühlt sich eher wie in einem modernen Internat als in einem Spital. Es gibt ein Tanzstudio, einen Abenteuerspielplatz für die Kleinen, einen Garten mit Slackline, und beinahe alle Kinder und Jugendlichen haben ein Zimmer für sich allein. Ihre Türen haben sie mit Stickern und Zeichnungen dekoriert, "Happy Birthday" steht auf einem Plakat, ein Mädchen hat Engelsflügel an ihre Tür geklebt. Dennoch ist es ein Ort, den wohl niemand von ihnen kennenlernen wollte. Trotzdem gehören sie noch zu den Glücklichen.

Allein in Hall stehen derzeit rund 50 Jugendliche auf der Warteliste – bei gerade einmal 43 Behandlungsplätzen, berichtet Kathrin Sevecke, Abteilungsleiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hall und der Universitätsklinik in Innsbruck. Hinzu kommt ein merklicher Anstieg der Jugendlichen in "akuten Krisen". Gemeint sind Jugendliche, die etwa wegen Selbstmordgedanken, Panikattacken, selbstverletzendem Verhalten oder Fremdaggression sofort aufgenommen werden müssen. Seit der Corona-Krise ist die Zahl dieser Fälle merklich gestiegen: Im Jahr 2021 waren es um 40 Prozent mehr als in den Jahren zuvor. Vor allem Essstörungen nehmen zu. In der Praxis bedeutet das volle Stationen und monatelange Wartezeiten.

Angst vor Gefährdung

Seveckes Kollege Paul Plener vom Allgemeinen Krankenhaus in Wien zeichnet ein ähnliches Bild: Mehr Jugendliche in psychischen Ausnahmezuständen kommen auf zu wenige stationäre Plätze. Es war vor einigen Tagen, als es wieder einmal so weit war: Ein Bursche hatte Drogen genommen, durcheinandergemischt, und war stark intoxikiert. Er war verzweifelt, es gab die Angst, dass der Jugendliche sich selbst gefährden könnte. "Undenkbar", den jungen Mann in diesem Zustand nach Hause zu schicken, sagt Plener. Nur: Weder auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Allgemeinen Krankenhauses noch anderswo in der gesamten Bundeshauptstadt war auch nur ein einziges Bett frei. Also "hantierten wir mit Überständen", wie es Klinikleiter Plener in Ärztesprech ausdrückt.

In Wien gibt es laut Auskunft vom Büro von Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) 97 Betten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und weitere 29 in eigenen Abteilungen für 16- bis 25-Jährige – theoretisch. Denn 39 Betten können aufgrund des Personalmangels nicht in Betrieb genommen werden. Die Situation war schon vor Corona desaströs. Jetzt ist sie es umso mehr. Trotzdem halten die Psychiater daran fest, dass man niemanden wegschickt, der sich akut selbst oder andere gefährden würde. Das unterstreicht auch Kathrin Sevecke – vor allem, was Plätze im sogenannten Unterbringungsbereich, also dem Ort, der im Volksmund "die Geschlossene" genannt wird, betrifft. Dort werden Jugendliche meist für einige Tage, mitunter auch gegen ihren Willen, untergebracht. Es geht um eine erste Stabilisierung, wenn sich das Umfeld der Patientinnen und Patienten nicht mehr zu helfen weiß. Doch damit ist die Arbeit kaum getan.

Lange Zeit

Wieder nach Hause geschickt werden Hilfesuchende dann, wenn sie nicht akut gefährdet sind oder andere gefährden könnten: Sie kommen auf eine Warteliste und bleiben dort oft lange. Diese Art der Triage, wie sie in dem Bereich seit Jahren praktiziert werden muss, hat drastische Konsequenzen. Während der Wartezeit eskaliere die Situation bei manchen Betroffenen zum Teil so, dass sie dann akut aufgenommen werden müssten, berichtet Plener. Suizid habe es zum Glück keinen gegeben, nachdem man jemanden hatte heimschicken müssen. Zumindest keinen, von dem Plener berichtet worden wäre – wovon der Arzt ausgeht.

Doch auch anders kann diese Wartezeit lebensbedrohlich werden. Das zeigt der Fall von Lea. Im Mai 2021 kam sie auf die Warteliste. Bis zum 7. September dauerte es, bis sie ihren Platz antreten durfte. Sieben Kilo habe sie in dieser Zeit noch zusätzlich abgenommen, obwohl sie zuvor bereits gefährlich untergewichtig gewesen sei. Ende des Sommers war ihr Köper immens geschwächt. "Meine Blutwerte waren sehr schlecht, und mein Herz musste beobachtet werden", erzählt sie.

Geschichten wie jene von Lea gibt es zuhauf. In der Corona-Pandemie sind besonders viele Jugendliche in Essstörungen geschlittert. "Ich darf bloß nicht dick werden, jetzt, wo ich nur mehr zu Hause herumsitze", hätten sich viele gedacht, sagt Paul Plener. Die viele freie Zeit, die ohne Treffen mit Freundinnen und Hobbys blieb, hat auch Lea mit Sport und Essensplanung gefüllt. "Manchmal habe ich so viel trainiert, dass ich abends nicht mehr stehen konnte", erzählt sie. Der Fokus auf das Abnehmen habe ihr in der unsicheren Zeit Halt gegeben, "einen Sinn", wie sie sagt.

Drastische Spuren

Dass die Corona-Krise drastische Spuren in der psychischen Verfassung vieler Jugendlicher hinterlassen hat, hat man auch im Gesundheitsministerium erkannt. Minister Wolfgang Mückstein (Grüne) kündigte vor einigen Wochen an, zumindest bis Ende 2022 13 Millionen Euro mehr für die Bewältigung psychischer Probleme von Kindern bereitstellen zu wollen.

Kathrin Sevecke begrüßt die Ankündigung. Sie habe als Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie gleich nach dem Bekanntwerden dem Gesundheitsminister einen Brief geschrieben, wie das Geld sinnvoll eingesetzt werden könnte. Antwort habe sie keine erhalten. Er freue sich über "alles", was in den Bereich investiert werde, sagt auch Kollege Plener. Auf die Frage, wie viel Geld zusätzlich zu den 13 Millionen eigentlich notwendig wäre, zögert der Klinikleiter kurz. Und sagt dann: "Salopp gesagt, eine Null hintendran wäre gut."

Für die Kinder- und Jugendpsychiatrien wird die Null im Fall dieser Aufstockung allerdings an vorderster Stelle stehen. Das Gesundheitsministerium teilt mit: "Die Förderung von stationären Leistungen ist nicht Gegenstand dieses Projektes." Ziel sei, durch die Corona-Krise besonders belasteten Kindern niederschwelligen Zugang zu psychosozialer Behandlung zu ermöglichen. Da hier Psychologinnen und Psychotherapeuten zum Einsatz kommen sollen, werden die jeweiligen Berufsverbände eine "wesentliche Rolle" bei der Verteilung der Gelder spielen, heißt es. Fließen soll das Geld ab Anfang 2022.

Anlaufstelle

Wenn der Hut schon brennt, dann bleibt aber nur die Klinik als Anlaufstelle. Für viele ist das dann der Fall, wenn sie ihre Probleme zu Hause nicht lösen können. Manchmal liegen die Ursachen für die Krisen auch genau dort. So etwa bei Melanie (Name geändert). Oft wollte sie von zu Hause flüchten. Nach einem Klinikaufenthalt auf der Jugendpsychiatrie in Innsbruck aufgrund einer depressiven Verstimmung wurde sie im März 2020 in die Corona-Pandemie und den ersten Lockdown entlassen.

Vor allem der Fernunterricht hat Melanie zu schaffen gemacht. "Ich gehe sehr gern in die Schule. Mich motiviert das, wenn ich Leute um mich herumhabe, die das Gleiche tun", sagt sie. Zu Hause habe es Streit gegeben: "Obwohl ich wegwollte, war ich immer daheim." Sie hätte das Schuljahr wohl geschafft, wenn sie einige Tests absolviert hätte. Dennoch hat sie sich für eine Lehre entschieden. "Auch weil ich hoffte, dadurch mehr rauszukommen." Die Berufsschule war einfacher als die Oberstufe, aber Melanie hatte wieder Unterricht von zu Hause aus. "Ich habe gemerkt, wie es mir immer schlechter und schlechter gegangen ist, und entschieden, einen Schlussstrich zu ziehen und auf mich selbst zu achten", erklärt sie, warum sie sich im Juli 2021 wieder ins Krankenhaus hat einweisen lassen.

Kathrin Sevecke betont, dass sie mit mehr Budget für die Kinder- und Jugendpsychiatrien "nicht noch ein Stockwerk obendrauf setzen" wolle. Stattdessen würde sie gern andere Behandlungsmethoden etablieren, wie etwa das Home-Treatment. Ein Angebot, das es seit kurzem etwa in Wien gibt. Dabei kommt das Behandlungsteam zu den Patientinnen und Patienten nach Hause. Der Vorteil sei, dass die Jugendlichen so leichter in den Alltag zurückfänden.

Doch manchmal ist gerade ein anderes Umfeld genau das, was Betroffene brauchen, damit sie wieder Fuß fassen können. "Wenn ich nicht daheim bin, geht es mir zehnmal besser", sagt etwa Melanie. Auch Lea geht es so: "Bei Psychiatrie denken die Leute, dass man verrückt ist, hier in der Zwangsjacke sitzt. Aber eigentlich müsste das jeder selbst einmal gesehen haben. Psychiatrie ist auch etwas Schönes. Es ist eine Gemeinschaft." (Vanessa Gaigg, Lisa Kogelnik, Antonia Rauth, 13.11.2021)