Die Dokumentaristin Shelly Silver zeigt in ihrem Film "Girls/Museum", wie die jüngste weibliche Generation auf Kunstwerke einer anderen Ära reagiert.

Foto: Dokumentarfilmwoche Duisburg

Ein kleines Mädchen steht vor Hans Baldungs Gemälde "Die sieben Lebensalter des Weibs". Man fragt sie, wer sie darauf am liebsten sein würde. Ihre schlagfertige Antwort: "Die Weintraube" – oben links im Bild zu sehen, alle Frauenfiguren überragend. Diese Szene stammt aus "Girls/Museum" von der Dokumentaristin Shelly Silver. Der Film fußt auf einer zeitlosen Idee: Die jüngste weibliche Generation wird mit den Kunstwerken einer anderen Ära konfrontiert.

16 Bildbetrachterinnen hat Silver im Leipziger Museum der bildenden Künste einzeln befragt. Am Ende dieses wendig montierten Rundgangs ist man verblüfft, wie klar die Mädchen das Ungleichgewicht in der Geschlechterpolitik der alten Meister benennen.

Manchmal ironisch, bisweilen verwundert über die vielen entblößten Brüste, dann begrifflich deutlich – hier werde eine Frau zum Objekt männlicher Fantasie! Aus diesen Eindrücken bezieht der Film sein Momentum. Die Sensibilität für Genderfragen scheint bei dieser Generation Bestandteil ihrer Identität zu sein. Da überrascht es am Ende, dass kaum ein Mädchen bereit ist, aus der eigenen Kritik Konsequenzen zu ziehen. Die Auswahl im Museum wird nur verhalten hinterfragt.

Per Zoom dabei

"Girls/Museum" wurde auf der Duisburger Filmwoche mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Silver war per Zoom aus New York zugeschaltet, ansonsten konnte diese Ausgabe des Festivals wieder physisch abgehalten werden. Die Konversation mit der Filmemacherin war auch ein Beispiel dafür, wie die Festivalwelt durch Corona weiter zusammengerückt ist: Die Debatte über den Kunstkanon und seinen männlichen Überhang lässt sich ja auch nicht lokal einschränken.

Die Spezialität der Filmwoche war immer ihre Debattenkultur, nach jedem Film wird ausgiebig kommentiert, in Werkstattgesprächen bieten Filmschaffende Einblick in Arbeitsweisen. In diesem Jahr etwa Philip Scheffner und die Autorin Merle Kröger: Sie sprachen auch darüber, wie sich der Status des Dokumentaristen verändert hat; einen Statthalter brauche in einer medienaffinen Gesellschaft etwa kaum jemand mehr.

Marc Thompson ist schwarz

Eine indirekte Antwort darauf gibt auch "Uncomfortable comfortable" von Maria Petschnig, die für ihren Film über einen Obdachlosen den Arte-Preis erhielt. Die junge Österreicherin nähert sich dem vor ihrer Wohnung in Brooklyn in einem Jeep lebenden Mann nicht im Modus einer Sozialreportage an. Vielmehr entspinnt sich hier ein fragiler, tastender Dialog, in dem es auch darum geht, bis zu welchem Grad man überhaupt die Perspektive eines anderen einnehmen kann.

Marc Thompson ist schwarz, seine Entscheidung, auf ein festes Zuhause zu verzichten, hat auch mit seinen klar umrissenen Vorstellungen einer rassistischen Gesellschaft zu tun. An einer Stelle des Films bleibt das Geschehen im Off unklar, doch über das Gespräch von Petschnig und Thompson wird deutlich, wie unterschiedlich die beiden ihre jeweiligen Wirklichkeiten sehen.

Ein Gerangel

Das heurige Motto hieß "Schichten". Es hätte aber auch "Framing" lauten können, so oft ging es um solch ein Gerangel an Blickweisen. Etwa in "Picnic at Hanging Rock" der Israelin Naama Heiman: Mit großer Offenheit bereitet sie die obsessive Beziehung zu ihrem Wohnungskompagnon auf, der auf ihre Avancen nicht eingeht, ja, nicht einmal gefilmt werden will. Heimans markanter, oft komischer Essay ist zu gleichen Teilen Beichte wie Exorzismus einer unerfüllten Liebe, zärtlich und doch voller Zorn. Zu seinen poetischen Bildideen gehört auch eine sich rekelnde Nacktschnecke, während ein missglücktes Liebesbekenntnis zu hören ist.

Ähnlich subjektiv ist der Zugang von Aleksey Lapin in "Krai", in dem es um ein Dorf an der russisch-ukrainischen Grenze geht. Der Regisseur gaukelt seinen Landsleuten ein Casting zu einem Historienfilm vor. Die Dorfbewohner steigen auf dieses Angebot ein und erweisen sich vor der Kamera als großzügige Komparsen. Manche sahen in dieser äußerst schön komponierter Arbeit schon keinen Dokumentarfilm mehr. Doch bei Heiman und Lapin geht es nur um ein anderes Verhältnis zum Realen, das weniger das Abbild als dessen Mehrdeutigkeit sucht. (Dominik Kamalzadeh, 14.11.2021)