Große Momente dort, wo er bald das Neujahrskonzert leiten wird: Dirigent Daniel Barenboim

Wien – Stellt die lebenslange Bindung bei Paarbeziehungen nur mehr ein verblasstes Ideal dar, so ist sie im künstlerischen Bereich zum Ausnahmefall geworden. Daniel Barenboim ist einer der Letzten seiner Art: Vor 21 Jahren wurde er von den Musikern der Staatskapelle Berlin zum Chefdirigenten auf Lebenszeit ernannt. Als Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden amtiert er noch bis 2027, dann wäre er 35 Jahre im Amt. Seine Vertragsverlängerung wurde allerdings durch Vorwürfe einzelner Orchestermusiker über Schikane und Mobbing des Dirigenten umschattet.

Am Sonntagvormittag war im Musikverein ein Aufkommen düsterer Schattierungen lediglich in den vierten Symphonien der Herren Schumann und Brahms zu bemerken – dort aber geballt. Sonst war alles eitel Wonne: Nach Auftritten in Athen, Mailand, Genf und Madrid präsentierte sich die Staatskapelle in Wien auch bei diesem Konzert als ein Klangkörper, der seinesgleichen nicht fände, wenn er es denn zu suchen begänne.

Müsste man die Reichhaltigkeit, die subtile Präzision, die elegante Pracht der Darbietung mit einem Wort beschreiben, würde dafür nur ein Adjektiv infrage kommen: unbeschreiblich. Kein Orchester agiert mehr wie ein homogenes Kollektiv als die Staatskapelle, und keines musiziert als Kollektiv differenzierter und emotional engagierter. Die Musiker spielen nie Töne, Melodien oder Harmonien – sie durchleben gemeinschaftlich Gefühle und Gefühlsveränderungen, en détail und en gros.

Daniel Barenboim ließ sich als feinfühliger Erschaffer dieser nationalparkmächtigen emotionalen Landschaften bescheiden feiern. Nach dem Besuch im Corona-Hochrisikogebiet Österreich ruft noch Zürich, dann geht es wieder nach Berlin. Bleibt nur noch, Barenboim anlässlich seines 79. Geburtstags am Montag im Interesse dieses einzigartigen Orchesters (und auch im eigenen) eines zu wünschen: Ad multos annos!

(Stefan Ender, 15.11.2021)