Die "Spaltung" ist kein verordnetes Übel, sondern: Nur wer aus freien und eigenen Stücken die Vernunft gebraucht, ist gesellschaftsfähig.

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Eben noch waren die Machthaber in ihren Regierungskanzleien einem Hagel von Kritik ausgesetzt: Sie würden dem schier unaufhaltsamen Anwachsen der vierten Corona-Welle indolent und annähernd untätig zusehen. Der Bundeskanzler und die zuständigen Minister? Schienen regelrecht in Geiselhaft genommen. Impfskeptiker und allerlei andere Zuwider-Denkende sahen und sehen bis heute die Exekutivgewalt in der Hand einer stets wechselnden Zahl von Experten: von Klinikbetreibern, Medizinökonomen, Infektiologen und vielen anderen mehr.

Nun, da sich die Verschärfung der Regeln, Stichwort: 2G mit viel Plus, vornehmlich gegen Ungeimpfte richtet, ist in Talkrunden plötzlich von "Spaltung" die Rede. Bestürzung senkt sich wie Mehltau auf die polierten Tische von Servus TV und anderen bewährten Einrichtungen der Aufklärung hernieder. Unsere Gesellschaft, der man ohnedies seit rund dreißig Jahren den unausweichlichen Zerfall prophezeit hat, werde, so der Tenor der Besorgten, mutwillig auseinanderdividiert. Selbst besonnene Zwischenrufer wie der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ("keine Geduld mehr mit Ungeimpften") bekommen in unserem nördlichen Nachbarland ihr Fett ab.

Rhetorischer Furor

Der Schlachtruf der Regierenden laute, traut man solchen Befunden: die Guten, weil Geimpften, in die Wirtsstuben und Shoppingmalls, die Schlechten in den Lockdown! Zum Virus geselle sich, so tönt die Klage, ein rhetorischer Spaltpilz, den alle Notverordnenden im Mund führen. Ihre dringende Aufforderung, sich impfen zu lassen, gleiche dem "Spreaden" einer zersetzenden Flüssigkeit: einer Art Lösungsmittels, das endgültig alle Sozialbindungen aufhebt. "Die oder wir": Der Piks mache den nichtgewollten Unterschied. Geeichte Fernsehintellektuelle wie Norbert Bolz nennen dergleichen "Manichäismus", ein Denken in den Kategorien von "gut" und "böse". Sie fürchten es wie einen Stich ins Herz aller Befürworter gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Doch nichts und niemand hat ein derartiges Vertrauen jemals gerechtfertigt: die fromme Hoffnung auf das einmütige Handeln aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Die "Verflüssigung" alter Ordnungen, das allmähliche Verschwinden des Zusammenhalts, gehört seit langem zu den Grundeinsichten moderner Sozialwissenschaft.

Der Staat lässt sich nicht mehr als Panoptikum denken, dessen Insassen hinter dicken Mauern vom blutunterlaufenen Auge der Macht kontrolliert werden. Die Gesellschaft der "freien Individuen" ermuntert ihre Kritiker sogar ausdrücklich dazu, Kritik zu üben, und zwar möglichst in Permanenz.

Wer jedoch ein freies Individuum sein, wer eine fest umrissene Identität annehmen (oder einfach nur fluide sein) möchte, der muss zu seinen eigenen Gunsten tätig werden. Menschen in unseren Gesellschaften ist die "Individuation" (Richard Sennett) als lebenslanges Training aufgegeben. Individualisierung, so formulierte es der Soziologe Zygmunt Bauman, bleibt unser Schicksal. Der Weg zur Selbstbestimmung ist nicht frei gewählt. Ein Ausscheren in den wärmenden Pfuhl der Gemeinschaft ist auch dann nicht vorgesehen, wenn er uns als Handelnde entlastet und als Unverantwortliche wärmt.

Reflexiv ist modern

Um zu werden, was man ist, wird man in der "reflexiven Moderne" (Ulrich Beck) zum Vernunftgebrauch förmlich gezwungen. Wie einst Jean-Paul Sartre schrieb: Es genügt nicht, als Bourgeois geboren zu werden – man muss auch das Leben eines Bourgeois führen. Erst durch obligatorische Selbstbestimmung wird aus dem Individuum die Bürgerin, der Bürger. Die Losung: Mensch, werde endlich staatsfähig.

Es ist der vernünftige Gedanke an die Gemeinwohlorientierung, der aus egoistischen Spießern verantwortlich handelnde Personen macht: "Öffentlichkeit"? Soll eben nicht von der "Privatsphäre" okkupiert werden. Der "eigene" Erreger, leichtfertig weitergereicht, schafft bloß falsche Vergemeinschaftung. Das Ergebnis solcher Laxheit ist die ultimativ schlechteste Form von Intimität. Erst die Einliegenden einer Intensivstation sind gleich und voneinander ungespalten.

Man kann die Regierenden für deren zauderndes Corona-Management ohne Ende kritisieren. Unsere Gesellschaft lässt sich – bis tief hinein in den Sprachgebrauch – den Schutz von Partikularinteressen ein immer stärkeres Anliegen sein. Ihre Vertreter jedenfalls sollten das leichtfertige Gerede von irgendwelchen Spaltungsabsichten vehement zurückweisen. (Ronald Pohl, 16.11.2021)