Pause für die Tutus: "Fly Paper Bird" von Marco Goecke ist Gegenwartsballett vom Feinsten, inspiriert von Ingeborg Bachmanns Gedicht "Mein Vogel".
Foto: Michael Poehn

Richtig gute Ballett-Compagnien von der Größe des Wiener Staatsballetts gibt’s nicht gerade im Überfluss auf diesem Planeten. Deswegen wird das Niveau der rund einhundert Tänzerinnen und Tänzer umfassenden Truppe auch international sehr genau verfolgt. Sonntagabend gab es wieder Gelegenheit dafür. Das Premierenpublikum wurde Zeuge eines Abends, der wieder bewiesen hat: Diese Truppe ist vom Feinsten.

Der übergreifende Titel für das dreiteilige Programm Im siebten Himmel kommt von einer Äußerung Gustav Mahlers über dessen Hochgefühle während der Arbeit an seiner 5. Symphonie. Das Zitat geht ohne weiteres als Ironie durch, weil der Komponist als Direktor der Wiener Hofoper zur Wende ins 20. Jahrhundert bekanntlich nicht gerade ein Ballettfan war. Konsequent gibt Choreograf Martin Schläpfer, unter Staatsopernchef Bogdan Roščić nun Leiter des Staatsballetts, dem Wiener Publikum mit seinem den "himmlischen" Abend einleitenden Stück Marsch, Walzer, Polka auch Gelegenheit zur Selbstironie. Für das aus dem Jahr 2006 stammende und mit einem neu choreografierten Teil versehene Stück hat Designerin Susanne Bisovsky Bühne und Kostüme verantwortet.

Radetzky-Marsch mit Subversion

Dafür trägt er in der Staatsoper dick und neckisch eine Sträußel-Tschoklad der Wiener Musik-Identität auf: Johann Strauß – Sohn mit dessen Donauwalzer plus Vater mit dem Radetzky-Marsch – und die "Sphärenklänge" des Josef Strauß. Die dazu choreografierten Tänze allerdings verschieben die Klangseligkeit zwischen Ekstase und Militarismus eindeutig ins Spöttische. Das funktioniert zwar nicht immer gleich gut, hat aber trotzdem Biss. Besonders der tänzerisch auf ein Solo von Jackson Carroll heruntergebrochene Radetzky-Marsch wird zur satirischen Subversion dieses Neujahrskonzert-Heiligtums.

Eindeutiger Höhepunkt des Abends: "Fly Paper Bird".
Foto: Michael Poehn

Eindeutiger Höhepunkt des Abends allerdings ist die Uraufführung von Fly Paper Bird der zeitgenössischen deutschen Ballett-Koryphäe Marco Goecke (49). Dass Schläpfer diesen Künstler jetzt zum ersten Mal nach Wien eingeladen hat, erweist sich als Glücksfall. Denn so kann das Wiener Publikum wieder einmal erfahren, was passiert, wenn ein brillanter Choreograf auf eine Gruppe exzellenter Tänzer trifft. Goecke jagt diese als bis zum Zerreißen angespannte Gemeinschaft durch schnelle, wie elektrisiert wirkende Bewegungsmotive und -folgen.

Hier kommt Mahler ins Spiel, und zwar eben dessen 5. Symphonie: erst die "stürmisch bewegte" Passage "mit größter Vehemenz", dann das "sehr langsame" und noch berühmtere "Adagietto". Dazwischen wird – in eine hoch aufgeladene Stille – Ingeborg Bachmanns Gedicht Mein Vogel geflüstert, beinahe gehechelt und gezischt: "Wenn auch der Nadeltanz unterm Baum / die Haut mir brennt … / knistert’s im dunklen Bestand, / und ich schlage den Funken aus mir."

Leichtigkeit und Aufwind

Bachmanns Stimme kommt von der überragenden Tänzerin Rebecca Horner, die auch in ihren Tanzparts aus diesem schon an sich mitreißenden Stück ein atemberaubendes Erlebnis macht. Fly Paper Bird ist alles andere als eine heitere Angelegenheit, aber Goecke und seine elfköpfige Gruppe schaffen es, der tragischen Atmosphäre eine Leichtigkeit und der Anspannung der Figuren einen Aufwind zu verleihen, die einen großen Vogel auf der Bühne langsam in die Höhe tragen.

Das ist Gegenwartsballett vom Feinsten, das in hartem Kontrast zum Schlussstück ¬dieses Abends steht: George Balanchines Symphony in C aus dem Jahr 1947. Reinste Neoklassik, ein Fest für einen Schwarm von Ballerinen in weißen Tutus. Auch da hat Schläpfer einen kleinen Witz eingebaut. Nicht die von Balanchine bevorzugten athletischen Tänzerinnen dominieren die Bühne, sondern ganz unterschiedliche Körperlichkeiten von Frauen, die dem berühmten Stück eine zusätzliche, verspielte Note verleihen.

Auch den anspruchsvollen Balanchine tanzt die Compagnie mit beinahe durchgehender Souveränität. Musikalisch sorgt das Orchester der Wiener Staatsoper unter Patrick Lange insgesamt perfekt für die passenden Klangwelten. (Helmut Ploebst, 16.11.2021)