Teiresias, der antike Sehende, ist auf den Theaterbühnen gerade wieder groß im Kommen. Sein Auftritt ist auch zu verlockend angesichts der vielen Gefahren, die Experten vorhersehen (vierte Welle, steigende Temperaturen …), und Politikern, die nichts hören, sehen oder wissen. Dante und seine Göttliche Komödie werden auch immer gern genommen, bei unaufhaltsam steigender Erderwärmung liegt die Hölle ja irgendwie nahe.
Thomas Köck hat in seinem jüngsten Stück Eure Paläste sind leer (all we ever wanted) beide Motive miteinander verwebt – und noch zig andere Querverweise. Ein einsames, womöglich auch unter Liebeskummer leidendes Ich wandelt da, begleitet von allerlei Geistern der Vergangenheit, durch einen verfallenen Palast. Auf einer anderen Erzählebene begegnet man einer Gruppe Konquistadoren nahe am Borderline-Syndrom auf der Suche nach Eldorado, mit allen Ingredienzen der Kolonialismus-Folklore, von üppiger Natur bis zu katholischem Gewaltporno, weil natürlich muss da auch eine Hexe gefoltert werden.
Blutige Augenbinde
Auf einer dritten Ebene gibt es schließlich noch den opiatsüchtigen Ex-High-Performer aus den US-amerikanischen Suburbs. Köck widmet sich also wieder einmal der menschgemachten Welt- und Menschzerstörung mit all ihren Facetten, mit Kapitalismus und Ausbeutung, Fundamentalis-, Eurozentris-, Kolonialis- und Imperialismus. Das ist durchaus abstrakt und disparat, und Jan-Christoph Gockel tut in seiner Uraufführungsinszenierung an den Münchner Kammerspielen nicht viel, um das zu überwinden.
Die Bühne (Julia Kurzweg) ist eine Kopie des Zuschauerraums – allerdings keine exakte, auf ihr hat sich bereits Verfall breitgemacht. Auch der Theaterraum, ein leerer Palast, der seine besten Tage schon gesehen hat? Hier jagt Gockel sein Ensemble (Bernardo Arias Porras, Katharina Bach, Christian Löber, Nancy Mensah-Offei, Michael Pietsch, Leoni Schulz) mit Livemusik-Begleitung (Anton Berman, Maria Moling) durch in puncto Stimmung und Temperatur eher unzusammenhängende Szenen. Zu Beginn bleibt das sehr fragmentiert, mit Stimmen aus dem Off und einem sich wieder und wieder senkenden Vorhang. Auftritt Seher-Figur: die blutige Augenbinde, das obligatorische Accessoire in jedem Untergangsszenario, immer im Anschlag.
Auto alla Castorf
Besser gelingt Gockel da schon die Bebilderung der Konquistadoren-Szenen, die er, genau wie das erzählende Ich im Palast (ein Kind), von Puppen darstellen lässt: Er setzt sie in einen alten VW-Golf, was durchaus lustige Momente abwirft und außerdem Möglichkeiten, ein paar Spitzen gegen den deutschen Autowahn abzusetzen.
Castorf-like wird aus dem Auto heraus auf eine Videoleinwand übertragen, und auch das große Geschrei und freier Blick aufs Damenhöschen dürfen nicht fehlen. Nach der Pause folgt noch eine feine Szene in bester Marthaler-Manier, wenn das Ensemble in Sixties-Outfits (eine Sache für sich: die Kostüme von Janina Brinkmann!) und rauchend wie die Schlote geziert die Köck-Sätze herausmanieriert.
Opiate, Rollschuhe, Gewaltporno
Das hat durchaus gelungene Momente, auch zwischen Frivolität und Klasse balancierende wie jenen, in dem opiatsüchtige Schlachthausmitarbeiter in Ronald-McDonald-Outfits ein rauschhaftes Rollschuhballett hinlegen, während auf der Textebene Blut fließt und Schaum aus Mündern quillt. Das hat aber auch wirklich verzichtbare, gedankenlose, ärgerliche Momente, etwa wenn besagter Gewaltporno (natürlich in bester Absicht!) genüsslich ausgewalzt wird. Die Sprache ist oft zu raunend, pathetisch und nimmt dem lakonischen Köck-Duktus jede Wucht.
Dass Gockel als Symbol für Eldorado das ikonografische McDonald's-Logo gewählt hat, ist ein wenig gar unterkomplex. Dazu ist der Abend, bei aller Spielfreude, mit seinen gut drei Stunden viel zu lang und streckenweise zäh. Der letzte Höllenkreis ist es zwar nicht – Eldorado aber auch nicht. (Andrea Heinz aus München, 16.11.2021)