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Thanksgiving als einendes Band, von allen überall im Land gefeiert: Die Idee ist vergleichsweise jüngeren Datums, sie geht auf Abraham Lincoln zurück.

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Thanksgiving, das löst zuverlässig Reflexe aus. Sobald sich die US-amerikanische Nation seelisch und moralisch auf den Thanksgiving Day vorbereitet, muss der kauzige, schrullige, verrückte Onkel als Metapher herhalten. Irgendwann nach Halloween fingen unsere Nachbarn in Washington an, von jenem Crazy Uncle zu reden, der sich nun bald wieder bei ihnen an den Tisch setzen würde und den man schlicht ertragen müsse.

Oder auch von irgendeinem schwarzen Schaf der Familie, das einzuladen schon deshalb Pflicht sei, weil alles andere als Affront sondergleichen in die Familienchronik einginge. Es klang immer ein bisschen verzweifelt, gespielt verzweifelt, verbunden mit einem Augenrollen.

Truthahn-Stress

Die Tradition will es, dass sich die ausgedehnte Familie am vierten Donnerstag im November trifft, idealerweise im Haus der Eltern, um möglichst harmonisch Erntedank zu feiern. Das allein sorgt schon für Stress. Die Kinder geschiedener Ehepaare eilen vom Truthahn mit Mom zum Truthahn mit Dad, sofern das logistisch überhaupt möglich ist.

Jung Verheiratete stehen vor der schwierigen Entscheidung, wessen Familie zu ihrem Recht kommen soll. Der sprichwörtliche Crazy Uncle, er soll sie offenbar nur illustrieren, die kleinen Dramen, die sich mit alledem verbinden.

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Wo der Truthahn verspeist wird, ist nicht immer leicht zu entscheiden.
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Bernadette Watkins, eine Expertin für Beziehungsfragen, die im Süden Floridas lebt, hat besorgten Gastgebern geraten, am besten auch ein paar "neutrale" Gäste an den Tisch zu bitten, Nachbarn, Kollegen, selbst Soldaten aus der nächsten Kaserne. Seien Leute dabei, die die Verwandtschaft nicht kenne, schreibt sie, nehme dies dem Treffen einiges von seiner inhärenten Spannung. "Man will sich ja nicht vor Fremden blamieren, also versucht man sich zu beherrschen."

Fest für alle

Thanksgiving ist das größte Fest in Amerika, wichtiger als Weihnachten, weil alle es feiern, konfessionsübergreifend, egal ob sie in die Kirche, die Synagoge, die Moschee, den Hindutempel oder in gar kein Gotteshaus gehen. Seinen Charme bezieht es zudem aus der Tatsache, dass auf Geschenke weitgehend verzichtet wird. Ein Stressfaktor weniger. In einem Land, das so von Konsum und Kommerz geprägt ist wie die USA, ist das eine Wohltat. Nur hält die Pause vom Kommerz nicht lange an: Am Black Friday, dem Freitag nach dem Thanksgiving Day, ergeben sich Millionen von Amerikanern dem Kaufrausch mit einem Eifer, als gelte es, die Pause schnellstens vergessen zu machen.

Black Friday, der Tag der Sonderangebote, läutet das Weihnachtsgeschäft ein. Den Mittwoch der Thanksgiving-Woche nennt der Volksmund übrigens Gridlock Day, den Tag der Verkehrsverstopfung, des Verkehrsinfarkts, an dem sich viel zu viele Menschen auf einmal auf den Weg nach Hause zur Familie machen. Die Flughäfen operieren schon seit dem Wochenende jenseits der Grenze ihrer Belastbarkeit.

Im Fernsehen zeigen sie Bilder, die das chronische Chaos dokumentieren, am liebsten aus O’Hare, dem Airport von Chicago, dem Luftkreuz im Mittleren Westen. Selbst im November 2020 waren es am Gridlock Day über eine Million Passagiere, die an den Sicherheitsschleusen der Flughäfen kontrolliert wurden, obwohl die Seuchenschutzbehörde CDC vom Fliegen in Zeiten der Corona-Pandemie dringend abgeraten hatte.

Beilagen sind das Beste

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Vom Geschmack der Vögel blieb nicht viel, die Beilagen sind das Beste am Thanksgiving Dinner.
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Das Fest als kulinarisches Highlight zu charakterisieren wäre wohl übertrieben, so sehr sich die Truthahnzüchter auch bemühen, dergleichen zu suggerieren. Was den Thanksgiving-Turkey angeht, so haben besagte Züchter vor allem auf die Fleischmenge geachtet, was dazu führte, dass vom Geschmack der Vögel nicht viel übrigblieb, mal abgesehen vom naturbelassenen "Heritage Turkey", den man auch bestellen kann, für einen Aufpreis, versteht sich.

Egal, das Beste am Thanksgiving-Dinner sind ohnehin die Beilagen. Wurzelgemüse, Kohlsprossen und Mashed Potatoes, vulgo Kartoffelbrei. Dazu Cornbread, das wunderbare Maisbrot. Und natürlich das Stuffing, das nur dem Namen nach die Füllung ist und aus praktisch allem hergestellt werden kann, was besonders satt macht: Eier, Maroni, Brot, Leber, daneben Sellerie.

Welche Spuren der vierte Donnerstag im November im Alltag hinterlässt, erkennt man schon an den Öfen. Die sind in aller Regel deutlich größer, als man es aus Mitteleuropa kennt, weil eben ein Trumm von einem Vogel hineinpassen muss. Gleiches gilt für Kühlschränke, was allerdings nicht nur am Truthahn liegt, sondern auch am obligatorischen Wasserspender.

Ebenfalls eine beliebt Beilage: Die Thanksgiving Dinner Rolls.
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Foto: Ursula Schersch

Der Mythos

Dann wäre da noch der Mythos Thanksgiving. Amerikaner beherrschen die Kunst, zu allem und jedem eine gute Geschichte zu erzählten, wobei man gut beraten ist, die Details mit einer gehörigen Prise Skepsis zu nehmen. Was wäre der Feiertag ohne die Pilgerväter? Ohne die Mayflower, das Schiff, das sie 1620 in die Neue Welt brachte, ins heutige Massachusetts?

Der Legende nach revanchierten sich die Kolonisten 1621 nach der ersten erfolgreichen Ernte mit einem Festmahl für die Hilfe der Wampanoag, der Ureinwohner, die ihnen das Überleben überhaupt erst ermöglichten. Nur steht die Legende, was Legenden nun mal so an sich haben, auf ziemlich wackeligen Füßen. Wie wackelig, das hat der Historiker David J. Silverman in einem Buch mit dem Titel This Land Is Their Land genau herausgearbeitet.

Erstens sei unwahrscheinlich, dass Truthahn serviert wurde, schreibt er. Zweitens hätten die Pilgerväter gar nicht daran gedacht, die Wampanoag einzuladen. Die seien vielmehr ohne Einladung erschienen, als sie Schüsse aus den Musketen ausgelassen Feiernder hörten. Eher aus Furcht vor dem Beginn kriegerischer Handlungen, bevor sie sich vom Gegenteil überzeugen ließen.

Und drittens habe niemand feierlichen Federschmuck getragen. Dass Schulkinder in jedem November Federhauben basteln, aus buntem Papier oder Pappkarton, beruhe auf einer Fiktion, doziert Silverman.

Im Norden wie im Süden

Thanksgiving als einendes Band, von allen überall im Land gefeiert: Die Idee ist vergleichsweise jüngeren Datums, sie geht auf Abraham Lincoln zurück. Der rief die gespaltene Nation am 3. Oktober 1863, mitten im amerikanischen Bürgerkrieg, dazu auf, den vierten Donnerstag im November als Tag der Danksagung zu begehen, "in jedem Teil der Vereinigten Staaten", wie er betonte.

Bis dahin war es Sache der einzelnen Bundesstaaten, das Datum des Thanksgiving-Day zu bestimmen. Wobei sich der Süden eher schwer damit tat, ein Fest zu feiern, dessen Ursprünge im Norden, in Neuengland, lagen. Ausgerechnet im Weißen Haus ist man übrigens einmal sehr bewusst abgewichen von Lincolns Proklamation. 1947 war das, in einem Jahr, in dem der Präsident Harry Truman seine Landsleute aufforderte, weniger Fleisch zu essen, damit das notleidende Europa durch Extralieferungen unterstützt werden konnte.

Dazu gehörte der Appell, donnerstags auf den Verzehr von Geflügel zu verzichten, was Truman am vierten Donnerstag im November in die Bredouille brachte. Um sich nicht selbst zu widersprechen, wagte er den Tabubruch und zog das Thanksgiving-Dinner kurzerhand vor. Auf einen Mittwoch. (Frank Herrmann, RONDO, 24.11.2021)