Die logische Antwort auf die Frage: "Plácido Domingo oder José Carreras?" lautete unter allen Umständen: Luciano Pavarotti.

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Ein tiefes, weithin vernehmliches Aufatmen ging in diesen Stunden und Tagen durch die heimische Damenwelt: Startenor Plácido Domingo (80) wird sein nachgedunkeltes Stimmgold dem Wiener Opernpublikum auch weiterhin nicht vorenthalten. Setzt man Vorwürfe wegen "sexueller Belästigung" einmal beiseite, lässt sich die Strahlkraft, die der Spanier einst auf hochanständige Damen der Gesellschaft ausübte, gar nicht recht in Worte fassen. Mir will im Rückblick überhaupt erscheinen, die alte Alternativfrage – "Stones oder Beatles?" – habe in Wirklichkeit gelautet: "Plácido Domingo oder José Carreras?" (Kenner antworteten natürlich immer mit "The Kinks" respektive Luciano Pavarotti.)

Als die Reformära Kreisky in ihren goldbraunen Spätherbst hinüberrutschte, schloss ich, ein pubertierender Babyboomer, innige Freundschaft mit einem Tunichtgut namens Fabrizio (der Bursche hieß tatsächlich so). Fabrizio genoss eine Reihe von Privilegien. Das, worum ich ihn am heftigsten beneidete: Seine alleinerziehende Mutter, eine zauberhaft schöne Person, verschonte ihn mit Nörgeleien und schenkte seiner Aufzucht auch sonst wenig Augenmerk.

Im ausziehbaren Lehnstuhl

Sie lag tagsüber in einem ausziehbaren Lehnstuhl in der Beletage ihrer Jugendstilvilla. Dort lauschte sie von früh bis spät Arien mit Plácido Domingo. Ihr Beitrag zum Gelingen: Sie knisterte laut vernehmlich mit ihren kostbar bestrumpften Zehen.

Auch sonst erfüllte Fabrizios Mama nur Pflichten, denen sie sich freiwillig unterzog. So half sie geduldig mit, ganze Jahrgänge Dom Pérignon zu vernichten. Aus Anlass eines meiner Besuche schenkte sie mir einen Augenaufschlag: "Mein Gott, Plácido wäre jede Sünde wert! Hast du mich verstanden? Jede!" Verwirrt torkelte ich nach Hause. Ich hatte ein Zauberreich betreten, dessen betörende Wirkung allein auf der Stimmkraft beruhte.

Als mir meine Mutter das nächste Mal die Haare schnitt (Friseurbesuche galten bei uns als reine Geldverschwendung), fragte sie: "Soll ich wieder die Bryan-Ferry-Frisur versuchen?" Ich schüttelte unwillig den Kopf. Ich wollte sofort das ebenso stolze wie kräftige Haar von Plácido Domingo haben. (Ronald Pohl, 17.11.2021)