Ein ganzer Wust von Enttäuschungen und Emotionen: Die Pandemie versetzt in Weißglut und schafft Einsamkeit.

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"Menschen, die sich nicht ernst genommen fühlen, besitzenals letztes Recht dasjenigeüber ihren Körper", sagt Sozialwissenschafterin Monika De Frantz.

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Aus der Covid-Krise wurde ein mehrjähriger Dauerstress für die Gesamtgesellschaft: Wie stark zieht die Pandemie unsere Institutionen von Teilhabe und Mitbestimmung in Mitleidenschaft? Die in Wien lehrende Sozialwissenschafterin Monika De Frantz zieht eine skeptische Zwischenbilanz.

STANDARD: Zu den "Gleichgewichtsbedingungen einer funktionierenden Demokratie" (Jürgen Habermas) gehört die Beteiligung der Bürger an der Politik. Schließt dieses Vertrauen auf die Mündigkeit der Staatsbürger ein, dass man ihnen zutraut, zu ihrem eigenen Besten zu handeln?

De Frantz: Demokratie geht von gleicher Beteiligung aus, und Staatsbürgerschaft beinhaltet Rechte und Pflichten. In jeder Organi sation gibt es Regeln, die das Zusammen leben ermöglichen. Die Verfassung definiert diese Rechte für die Teil habe, legt aber auch Pflichten fest. Derzeit wird die Pandemie von den verfassungsrechtlichen Experten als Notsituation eingestuft: Das begründet die Einführung von Ausnahmeregelungen.

STANDARD: Was noch nichts aussagt über die Bereitschaft der Menschen, mitzuziehen.

De Frantz: In einer Demokratie gibt es Interessenkonflikte. Der Diskurs ist jetzt auch deshalb so polemisch aufgeladen, weil man eine derartige Einschränkung von Rechten in den vergangenen Jahrzehnten nicht erfahren hat. Die Verunsicherung der Menschen ist aber nicht durch Covid allein entstanden. Es gab bereits davor komplexere Probleme wie den Klimawandel. Schon da besaßen die nationalstaatlich organisierten, demokratischen Institutionen nur eine beschränkte Handlungsmacht. Es wurde auch ein neoliberaler Diskurs geführt, der den Akzent stark auf das Ich gelegt hat. Die Institutionen wurden ausgehöhlt, das Vertrauen in die Staatsmacht erschüttert. Dazu kam der populistische Diskurs. Die heutige Polarisierung ist Fortführung und Resultat dieser Tendenzen.

STANDARD: Covid wirkt wie ein Beschleuniger?

De Frantz: Die Krisenerfahrungen werden plötzlich konkret. Bestehende Institutionen scheinen nicht mehr ganz zu funktionieren, und das Versagen, die Unsicherheit werden auf Covid fokussiert. Politiker können Corona sehr viel einfacher erklären als so komplexe Phänomene wie den Klimawandel. Die Verordnung von drastischen Maßnahmen demonstriert Handlungsfähigkeit.

STANDARD: Die Pandemie als Vereinfacher?

De Frantz: Der politische Diskurs wird ver einfacht, wobei Covid an sich ein komplexes Thema ist. Einerseits wird von einer "demokratischen Bewährungsprobe" gesprochen: Der massive Eingriff in die Bürgerrechte sollte nur in Ausnahmefällen und sehr beschränkt definiert sein. Andererseits besteht für die Demokratie auch eine Chance: In unseren Gesellschaften konnte man ja durchaus einen Rückzug aus der Politik konstatieren, angesichts der Komplexität der Probleme.

STANDARD: Somit ist die neue Streitkultur begrüßenswert?

De Frantz: Es finden wieder Diskussionen statt über die Wichtigkeit unserer demokratischen Rechte und Pflichten. Das Problem dabei: Es bricht ein wenig der Rahmen weg, den wir zur Führung einer solchen Diskussion benötigen. Zivilgesellschaftliche Institutionen, aber auch der öffentliche Raum ermöglichen den Zugang zu Informationen, Meinungsaustausch, Empowerment. Diese "deliberative" Demokratie ist auf unser aller Mitwirkung angewiesen ist.

STANDARD: Öffentlichkeit kommt abhanden?

De Frantz: Es bestanden ja bereits vorher beschränkende Tendenzen: Kommerzialisierung, Fragmentierung, Individualisierung. Auch vor Corona wurden zivilgesellschaftliche Einrichtungen budgetär gekürzt. Dank des neoliberalen Umbaus staatlicher Institutionen wurde wirtschaftlicher Druck ausgeübt. Jetzt schränkt nicht mehr nur der "Markt" die Rechte ein, sondern es ist der Staat selbst. Dabei ist die Teilnahme am öffentlichen Leben eine Form, die eigene Existenz zu manifestieren. Im Sommer konnten die Leute ins Freie ausweichen und entwickelten so kreative Praktiken der Zusammenkunft. Durch den Wegfall der Konsumzwänge, etwa in der Gastronomie, verminderte sich auch die soziale Distinktion durch Status, Geld, Geschmack. Wenn man im Park feiert, gibt es niederschwellige Möglichkeiten, sich mit den Nachbarn auszutauschen. Im Winter ist das schwieriger. Wir haben gesehen, dass die Leute stärker auf bewährte Gruppen zurückgreifen, auf die Familie, den Freundeskreis. Der Rückzug ins Private setzt sich fort.

STANDARD: Mit welchen dauerhaften Schäden muss eine von Covid gestresste Gesellschaft rechnen?

De Frantz: Man ging von einer vorübergehenden Notlage aus. Aber die Idee, dass soziale Beziehungen an- und abgeschaltet werden können wie eine technokratische Maschine, war von Anfang an fragwürdig. Die Expertise blickt auf die Inzidenzzahlen, aber die komplexen Zusammenhänge erfordern eine breitere sozialwissenschaftliche Perspektive. Man sollte stärker die Berührungsängste mitbedenken, sowie die ökonomischen und sozialen Folgen. Auch das institutionelle Gefüge ist nur noch begrenzt durch haltefähig.

STANDARD: Die Substanz ist in Gefahr?

De Frantz: Man könnte doch zum Beispiel überlegen, ob es nicht Investitionen ins Gesundheitssystem gebe sollte; der Lockdown wird immer an der Zahl der Betten ausgerichtet. Man könnte umgekehrt andenken, welchen langfristigen Ausbau des Gesundheitssystems es braucht, um derartigen Krisensituationen gewachsen zu sein. Die Kosten eines Lockdowns sind ohnehin horrend. Vielleicht wäre es sinnvoller, sie gleich ins Gesundheitssystem zu stecken? Zugleich wird der Druck auf Arbeitslose erhöht: Die Menschen werden individuell verantwortlich gemacht für eine makroökonomische Krise. Menschen, die sich nicht wahr- oder ernst genommen fühlen, besitzen quasi als letztes Recht: dasjenige über ihren Körper. Warum soll jemand Verantwortung für den Staat übernehmen, der seinerseits in der Empfindung lebt, der Staat übernimmt keine Verantwortung für ihn? (Ronald Pohl, 17.11.2021)