Adele liefert mit ihren 33 Jahren das Album "30" als Nachfolger von "19", "21" und "25" etwas verspätet ab.

Foto: Sony

Gleich wird eine Frau namens Adele an die Tür klopfen und uns mit kräftiger Stimme singend eine schlechte Nachricht überbringen. Liebe kann und soll zwar ewig dauern. Sie muss es aber nicht. Nachdem sich Adele nach den elf Songs des neuen Albums namens 30 und einer schmerzensreichen, aber erlösenden Dreiviertelstunde wieder bei uns verabschiedet hat, wird am Ende zwar nicht alles gut geworden sein. Allen Beteiligten wird es aber ein bisschen besser gehen. Die Zeit heilt alle Wunden. Und immer wieder geht die Sonne auf. Damit Neues entstehen kann, muss das Alte sterben. Jede neue Liebe ist wie ein neues Leben.

Herzlich willkommen in der Welt der Popmusik! Wie keine andere Kunstform ist sie dazu in der Lage, den Menschen mit einfachsten, sehr oft auch billigen Mitteln Trost zu spenden. Pop begleitet uns durchs Leben, er gibt uns Kraft und Mut.

Katz V

Adele jedenfalls legt nach 19 oder 25 mit 30, etwas verspätet mit 33 Jahren, ein Scheidungsalbum vor, das sich gewaschen hat. Wer es gern auf die harte Tour hat, wird aus dieser Rosskur gestärkt hervorgehen. Menschen, die immer noch tiefer in den Abgrund hinabsteigen, denen wird irgendwann selbst das Unten zum Oben. Am besten geeignet sind die neuen Lieder wohl für Menschen, die das Schlimmste in Sachen Trennung schon hinter sich haben. Adele erfüllt dieses Kriterium. Ihre Scheidung liegt einige Jahre zurück, jetzt will sie für uns darüber voller Inbrunst, Verletzlichkeit und Wut singen.

Die Medienkampagne für die wohl größte öffentliche Therapiesitzung in der Geschichte des an beschädigten Seelen nicht gerade armen Pop wurde allerdings nicht nur mit tränennassen Augen geplant. Wie jeder Scheidungsanwalt weiß, ist Angriff die beste Verteidigung.

Überwältigungssoul

Vor einigen Wochen startete die Unternehmung mit einem Ziel. Das von der halben Menschheit bejubelte Gesülze von Ed Sheeran und das Comeback von Abba müssen in ihre Grenzen gewiesen werden. Das soll mittels zeitgenössischen Überwältigungssouls und Befreiungsgospels fürs Kuchlradio geschehen. Es begann mit globalen Adele-Lichtspielen in Form der kryptischen Zahl 30. Die wurde unter anderem auf den Buckingham-Palast, den Eiffelturm oder das Kolosseum in Rom projiziert. Social Media kreischte vor Vergnügen.

Es folgten die Scheidungssingle Easy On Me sowie Coverstorys in der Vogue und im Rolling Stone. Diese Woche unternahm Adele den zweistündigen Beichtgang zu Oprah Winfrey – dort ging es natürlich auch um ihre Diät, Pilates und die Datingprobleme von A-Promis. Am Dienstag folgte ein Streaming-Konzert live aus Los Angeles.

Das Leben geht weiter

Am Freitag wird man beim Erscheinen von 30 mit Strangers by Nature, einer klassischen Bigband-Ballade, mit dem gemütvollen Intro "Ich bringe Blumen ans Grab meines Herzens" begrüßt. Dort bleiben wir jetzt länger. Nach Lean On Me und einer ersten von mehreren Songbotschaften an sich selbst und den Ex wird in dem mit der Plastikschaufel im R-’n’-B-Sandkasten baggernden My Little Love der neunjährige Sohn Angelo um Vergebung gebeten: Ich bin eine schlechte Mutter, ich fühle mich so schlecht, ich muss noch viel lernen. Am Ende wird gar geweint.

AdeleVEVO

So geht es weiter. Da ist viel, viel Schmerz in die fast durchgängig im Balladentempo gehaltenen, gar sehr unauffälligen Songs hineingepackt. Sie wurden unter anderem vom aalglatten Pop-Schweden Max Martin und dem erdigeren Produzenten Inflo vom Londoner Soulkollektiv Sault irgendwo in der Mitte zwischen Elton John, Hotelbargeklimper, grüblerischem Durchhalte-Gospel und Blue-Eyed-Soul designt.

Leider fehlen große wellenbrechende Refrains wie früher in Rolling In The Deep. Dazu kommt auch noch Autotune! Auf dieser Stimme! Die Texte der Lieder sind doch schon hart genug. Cry Your Heart Out! Oh My God!! I Drink Wine!!! Eine zähe Sache. Wird sich aber millionenfach verkaufen. Am Ende die Erlösung: Love Is A Game. Orchestersoul mit großer Himmelfahrt. Haltet durch, das Leben geht weiter. (Christian Schachinger, 17.11.2021)