Die belarussische Regierung wirft Polen vor, für die Gewalteskalation an der Grenze verantwortlich zu sein.

Foto: AFP / Belta / Leonid Shcheglov

Białystok/Grodno – Belarus hat nach Angaben der polnischen Regierung damit begonnen, die am geschlossenen Grenzübergang Kuźnica-Brusgi campierenden Migranten mit Bussen an einen anderen Ort zu bringen. "Ich habe die Information bekommen, dass Lukaschenko erste Busse bereitgestellt hat, in die die Migranten einsteigen und wegfahren. Das Zeltlager bei Kuźnica leert sich", sagte Polens Vizeinnenminister Maciej Wąsik am Dienstag dem Sender TV Republika. "Es sieht danach aus, dass Lukaschenko diese Schlacht um die Grenze verloren hat."

Staatsnahe belarussische Medien veröffentlichten Videos von vier Reisebussen. Diese sollten einige der Migranten "an andere Orte" bringen, hieß es unter Berufung auf das Rote Kreuz. So solle vermieden werden, dass es in dem neuen Nachtlager zu voll werde. Nach Schätzungen des polnischen Grenzschutzes von Dienstag sind bei Kuźnica rund 2.000 Migranten zusammengekommen.

Der erste Flug mit irakischen Migranten von Belarus aus in ihrer Heimat soll einem Agenturbericht zufolge am Donnerstag starten. Dies berichtete die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti am Mittwoch unter Berufung auf den irakischen Botschafter in Moskau. Nach Angaben des Auswärtigen Amts in Berlin haben sich 170 Iraker an der belarussisch-polnischen Grenze für eine "zeitnahe Rückführung" gemeldet. Deren Papiere würden nun vorbereitet, sagte ein Ministeriumssprecher.

Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Migranten

Am Dienstag war es bei Kuźnica zu Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen und polnischen Sicherheitskräften gekommen. Polen setzte Wasserwerfer ein. Die Migranten warfen nach polnischen Angaben mit Steinen, Flaschen und Erdklumpen. Sie seien außerdem mit Knallgranaten und Steinschleudern ausgerüstet gewesen. Sieben Polizisten, ein Grenzschützer und ein Soldat wurden demnach verletzt. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen, da Polen keine Medienvertreter in die Grenzregion lässt. Der Sprecher des Koordinators der polnischen Geheimdienste, Stanisław Żaryn, sprach von einer "koordinierten Attacke auf die polnische Grenze".

Nach Angaben des belarussischen Gesundheitsministeriums wurden in den vergangenen Tagen etwa 20 an der Grenze campierende Migranten medizinisch behandelt. Fünf von ihnen wurden demnach am Dienstag wegen Problemen an den Augen oder Atembeschwerden versorgt.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow verurteilte das Vorgehen der polnischen Sicherheitskräfte als "absolut inakzeptabel". Nach seinen Angaben feuerten diese auch "Schüsse über die Köpfe von Migranten hinweg in Richtung Belarus" ab. Belarus warf Polen vor, für die Gewalteskalation verantwortlich zu sein. Von der polnischen Seite seien "direkte Provokationen und eine unmenschliche Behandlung" der "benachteiligten" Menschen an der Grenze ausgegangen, erklärte Außenamtssprecher Anatoli Glas.

Polen kritisiert Deutschland und Frankreich

Polen kritisiert unterdessen die Vermittlungsversuche von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. Er persönlich habe sich über das Gespräch mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko gewundert, denn das sei "in gewisser Weise die Akzeptanz seiner Wahl", sagte der polnische Regierungssprecher Piotr Müller am Mittwoch. Er verstehe die Situation, glaube aber, dass es kein guter Schritt sei.

Polens Regierung sei aber im Voraus über Merkels Telefonat mit Lukaschenko und Macrons Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin informiert werden, betonte Müller im Sender TVP.

Erstes Gespräch seit Machtübernahme

Estlands Außenministerin Eva-Maria Liimets hatte zuvor im Sender ETV Details aus Merkels Telefonat mit Lukaschenko verraten: "Er will ein Ende der Sanktionen und die Anerkennung als Staatschef", antwortete Liimets am Dienstag auf die Frage, welche Forderungen Lukaschenko für eine Beendigung der Migrationskrise an der EU-Außengrenze stelle.

Merkel hatte am Montagabend angesichts der Not der Migranten mit Lukaschenko telefoniert. Laut einem Bericht des belarussischen Fernsehens dauerte das Gespräch etwa 50 Minuten. Es war Merkels erstes Gespräch mit dem belarussischen Machthaber seit der umstrittenen belarussischen Präsidentenwahl am 9. August vergangenen Jahres. Ebenfalls am Montag führte Macron ein langes Telefonat mit Putin über die Rolle, die Russland bei einer Lösung des Konflikts spielen könnte. Am Dienstag sprach Putin mit Lukaschenko.

Estland kündigt Manöver an russischer Grenze an

Estland hat unterdessen ein Manöver an seiner Grenze zu Russland angekündigt und will dort einen Stacheldrahtzaun errichten. Damit reagiere man auf die eskalierende Flüchtlingskrise in Belarus, teilte die Regierung am Mittwoch mit. Das Manöver werde 1.700 Soldaten umfassen.

An Polens Grenze zu Belarus harren auf der belarussischen Seite seit mehreren Tagen tausende Migranten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in provisorischen Camps aus. Die polnische Regierung und die EU werfen Lukaschenko vor, gezielt Menschen aus Krisenregionen einfliegen zu lassen, um sie dann in die EU zu schleusen. Die EU erkennt Lukaschenko nicht als Präsidenten an. Hintergrund sind massive Betrugsvorwürfe bei der Wahl sowie das Vorgehen der belarussischen Sicherheitskräfte gegen friedliche Demonstranten und die Zivilgesellschaft. (APA, 17.11.2021)