Minister Mückstein und Kanzler Schallenberg bei einem Pressetermin.

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Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Nicht nur die der Neuinfektionen und Toten, die dieser Tage immer dramatischer werden. Auch diejenigen, die die Ausgaben der Bundesregierung für ihre Impfkampagne "Österreich impft" beziffern. Wurden im Jänner noch über drei Millionen Euro für die Kampagne, die zum Impfen motivieren sollte, ausgegeben, schrumpfte das im Juli etwas über eine halbe Million, im August dann auf knapp 200.000. Die Zahlen stammen von Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) und stehen in der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage von Julia Herr (SPÖ).

Deutlich ist auch die Sprache von Expertinnen und Experten, und zwar schon seit Monaten. Im August meinte etwa Komplexitätsforscher Peter Klimek, es brauche eine gute Risikokommunikation, dazu weitere Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Schon einen Monat zuvor hieß es vom Covid-Prognose-Konsortium, es sei von steigenden Zahlen in den Krankenhäusern auszugehen. Und bereits im heurigen März warnte Virologin Dorothee von Laer vor einer neuerlichen Welle im Herbst.

Ein verschlafener Sommer

Was seither geschah, ist bekannt: Streitigkeiten in der Regierung darüber, welche Maßnahmen denn nun kommen könnten und sollten, dazu ein Lockdown für Ungeimpfte. Wie bewerten Juristen und Juristinnen dieses Vorgehen? Und welche politischen Folgen könnte all das noch nach sich ziehen?

Erstgenanntes zeigt die Causa Ischgl. Nachdem sich im März 2020 von dort aus Infektionen in die ganze Welt verstreut haben, laufen dazu mehrere Verfahren. Einerseits stellte eine Untersuchungskommission fest, dass es "Fehleinschätzungen" gab. Außerdem läuft eine Amtshaftungsklage, bei der Opfer, also Menschen, die sich in Ischgl infiziert haben oder Angehörige von an Covid verstorbenen, Schadenersatzansprüche geltend machen. Das ist die zivilrechtliche Seite. Auf strafrechtlicher Seite ermittelte außerdem die Staatsanwaltschaft wegen der Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten.

Beide Verfahren treten momentan auf der Stelle – in der Amtshaftungsklage lehnte erst kürzlich das Bezirksgericht Wien Innere Stadt einen Antrag auf Beweissicherung ab, in der Strafsache liegt der Vorhabensbericht seit Monaten im Justizministerium. Beide werden sich wohl noch Monate, wenn nicht gar Jahre ziehen.

Ischgl als Präzedenzfall

Und beide Verfahren könnten, mit Blick auf das aktuelle Pandemiemanagement, Präzedenzfälle sein. Zwar sind momentan keine Klagen oder Anzeigen, geschweige denn Ermittlungen bekannt, es sei aber denkbar, so sagt Verfassungs- und Verwaltungsjurist Peter Bußjäger, dass derartige Vorwürfe auch die Bundesregierung treffen könnten.

Wobei es auf dem Weg zu einem etwaigen Urteil Hürden gibt. Alexander Klauser, er vertritt Opfer im Amtshaftungsprozess in der Causa Ischgl, sieht die zum Beispiel in der Kausalität, die muss nämlich nachweisbar sein. "Eine Person, die jetzt erkrankt und Schadenersatzansprüche geltend machen möchte, muss beweisen, dass das anders gewesen wäre, hätte die Regierung etwa im Sommer schon bessere Maßnahmen gesetzt", sagt er.

Auch Peter Kolba, Obmann des Verbraucherschutzvereins, der die Klage eingebracht hat, argumentiert so. Grundsätzlich, so meint er, könne man die Regierung sehr wohl für Todes- oder Infektionsfälle zur Verantwortung ziehen. Doch: "Man müsste beweisen, dass das auf eine Rechtsverletzung der Regierung zurückgeht." Das sei im Falle Ischgl, wo es noch kaum Infektionen gab und man einfach nachverfolgen konnte, wer sich dort infizierte, einfacher als jetzt, wo das Virus derart grassiert. Und: Rechtsschutzversicherungen würden derartige Fälle mit Berufung auf eine "Pandemieklausel" nicht decken, damit sei das Kostenrisiko zu groß.

Anders sei das bei einer Strafanzeige. Da trägt die Kosten für die Ermittlungen der Staat, eine fundierte Anzeige sei da ein Weg, "den man schon gehen kann". Infrage kämen dabei eben der Gefährdungsparagraf oder auch Amtsmissbrauch durch Unterlassung, dem könne man sich als Privatbeteiligter anschließen. Bußjäger wirft aber ein: Beim Amtsmissbrauch durch Unterlassung bräuchte es "eine Wissentlichkeit und einen Schädigungsvorsatz".

Strafrechtsexpertin Heidemarie Paulitsch meint generell, ein strafrechtlicher Vorwurf sei "zu weit hergeholt". Denn: "Die Regierung setzt ja Maßnahmen, es wird täglich diskutiert, entschieden und verordnet, es wird versucht, etwas zu machen."

Fragen wie diese stellen sich aber auch für Landesregierungen. So ortet etwa Rechtsanwalt Christian F. Schneider im Gespräch mit der Presse eine rechtliche Verpflichtung für einen kompletten Lockdown angesichts überlasteter Spitäler. Droht der Zusammenbruch des Gesundheitssystems, wie es derzeit in Salzburg der Fall ist, werde aus der Kann-Bestimmung eines Lockdowns für alle im Covid-19-Maßnahmengesetz eine Muss-Bestimmung, so die Argumentation. Laut dem Verfassungsgerichtshof bestehe in solchen Fällen kein freies Ermessen, sondern ein gesetzlich gebundenes, so Schneider. Dafür sprächen auch die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates, Gesundheitsgefährdungen hintanzuhalten. Am Donnerstag wurde ein Lockdown ab nächster Woche für Oberösterreich und Salzburg angekündigt.

Politische Verantwortung

Auch politisch wird man die Versäumnisse der Bundesregierung in der Pandemie eines Tages aufarbeiten müssen. DER STANDARD fragte bei den Oppositionsparteien im Parlament nach, ob sie einen Untersuchungsausschuss dazu planen.

"Am aktuellen katastrophalen Höhepunkt der Corona-Krise in Österreich muss die gesundheitliche Bewältigung dieser Krise, für die Türkis-Grün die Verantwortung trägt, Priorität haben", sagt dazu SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfried. Er ist sich sicher: "Die dramatische Zuspitzung der vierten Welle, die wir derzeit erleben, hätte verhindert werden können und müssen. Die politische Verantwortung für diese Pannen, Fehler und falschen Entscheidungen von Türkis-Grün muss aufgearbeitet werden."

Die Opposition allein kann einen solchen nicht installieren, da sie bereits mit dem "ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss" die Zahl der U-Ausschüsse, die sie als Minderheit einsetzen kann, ausgeschöpft hat. Mit der Unterstützung der ÖVP und der Grünen könne man einen Ausschuss aber natürlich einsetzen, betont der FPÖ-Fraktionsvorsitzende im kommenden ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss, Christian Hafenecker. Seine Partei würde einen U-Ausschuss jedenfalls unterstützen und interessiere sich vor allem für "diverse Beschaffungsvorgänge" oder jüngst beschlossene Maßnahmen wie "3G am Arbeitsplatz, 2G, Lockdown für Ungeimpfte und jene Dinge, die aktuell im Raum stehen – wie die Impfpflicht für das Gesundheitswesen oder sogar darüber hinaus die Impfpflicht für alle".

Lernen aus Fehlern

"Überzeugt davon", dass es eine Untersuchung brauchen wird, ist auch Neos-Vizeklubchef im Parlament, Nikolaus Scherak, der vor allem nicht versteht, warum sich die Regierung nicht Managementexperten für komplexe Prozesse" wie etwa das Impfen geholt hat. Grüne und ÖVP sollten einem solchen U-Ausschuss auch zustimmen, so Scherak, denn: "Man darf doch wohl erwarten, dass alle aus Fehlern lernen wollen."

Aus dem Parlamentsklub der Grünen heißt es von einem Sprecher, jetzt könne man dazu nichts sagen, man sei "mit Pandemiebekämpfung beschäftigt". (Gabriele Scherndl, Colette M. Schmidt, 18.11.2021)