Allein heuer wurden bislang 700.000 Menschen innerhalb Afghanistans vertrieben. Besonders hart trifft es die Kinder.

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Kochgeschirr, Erbstücke, Brautkleider – all das und vieles mehr bieten Menschen in Afghanistan auf den Straßen feil. Sie versuchen an Geld zu kommen, um sich Essen zu kaufen und so ihren Hunger zu stillen. Der nämlich hält das Land fest im Griff. So fest, dass manche Eltern sogar ihre Kinder verkaufen, um sie nicht ernähren zu müssen, wie CNN berichtet.

Auch die Statistiken verdeutlichen die düstere Lage im Land. Fast 23 Millionen der rund 40 Millionen Menschen im Land leiden derzeit Hunger, sagt Martin Rentsch vom UN-Welternährungsprogramm (WFP). 8,7 Millionen, so der Sprecher des auch für Österreich zuständigen Berliner WFP-Büros, hungern auf Notfallniveau: "Das heißt, sie wissen nicht, was sie ihrer Familie abends auf den Tisch stellen sollen."

Das ganze Land betroffen

Dass es in Afghanistan diesbezüglich kriselt, ist nicht neu – doch wurde nun eine neue Dimension erreicht. "Anfang des Jahres hungerten 14 Millionen, jetzt sind es fast 23 Millionen. Und es betrifft nicht mehr wie früher nur die Landbevölkerung, sondern das ganze Land."

Jahrelanger Konflikt hat in Afghanistan für Leid gesorgt, nun kommen weitere Faktoren hinzu: Klimawandel, Corona-Pandemie, und die Wirtschaft befindet sich seit der Machtübernahme der Taliban im August "im freien Fall", wie Rentsch sagt. Dazu kommt ein "sehr zerrüttetes Gesundheitssystem", sagt Martina Schloffer, stellvertretende Bereichsleiterin für Einsatz und internationale Zusammenarbeit beim Österreichischen Roten Kreuz.

Helfer abgezogen

Deshalb sei man im Land mit mobilen Gesundheitsteams unterwegs in die teilweise verlassenen Dorfkliniken, um den Menschen beim Nötigsten zu helfen, etwa bei Medikamenten. Denn viele Helfer, so Schloffer, wurden nach dem Machtwechsel abgezogen, auch Hilfsgelder flossen nicht mehr wie gewohnt.

Neu ist, dass nun auch die Stadtbevölkerung verstärkt an Hunger leide. Einerseits, sagt Schloffer, sei diese verstärkt von Schäden durch Kriegsfolgen betroffen. Andererseits, so Rentsch, "kommt die Mittelschicht nicht an ihr Erspartes, weil das Finanzsystem nicht funktioniert". Auch all jene, die für das Staatswesen arbeiteten, Beamte oder Ärzte, werden häufig nicht mehr bezahlt und sind plötzlich auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Kinder besonders betroffen

Besonders hart trifft es Frauen und Kinder, sagt Schloffer und nennt weitere Zahlen: "Allein heuer wurden bislang 700.000 Menschen intern, also im Land, durch Dürre, Wasserknappheit oder den Konflikt vertrieben. 80 Prozent davon sind Frauen und Kinder." Geschätzt wird, dass bis Ende des Jahres 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren an Mangelernährung leiden werden. "Wir wissen nicht, wie Frauen und Kinder in den nächsten Monaten Zugang zu Nahrung und Gesundheitsversorgung haben werden. Für sie ist es am schwersten."

Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, naht der Winter, der die Situation weiter verschärfen wird. In manchen Regionen ist er bereits da, sagt Martin Rentsch. "Manche Landesteile werden von der Außenwelt abgeschnitten sein. Dorthin müssen wir schnell Hilfe liefern, damit die Menschen den Winter überleben."

Kein Problem mit den Taliban

Das WFP ist mit mehr als 400 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen vor Ort, mit 240 Trucks liefert es Essen. Für das Rote Kreuz und den Roten Halbmond leisten mehrere Tausend Menschen im Land Hilfe. Die Taliban bereiten dabei keine Probleme, sagen das Rote Kreuz und WFP. Man müsse mit jenen reden, die den Zugang zu den Menschen kontrollieren, um Hilfe leisten zu können. Das bedeute nicht, dass man jemanden anerkenne, sagt Schloffer.

Das große Problem sei vielmehr, die Mittel zu haben, um den Menschen in Afghanistan weiter zu helfen. Immer wieder werden internationale Hilfszusagen gemacht. Doch müsse das Geld auch tatsächlich ausbezahlt werden. "Von Versprechen kann man niemanden ernähren", sagt Rentsch. Ansonsten, sagt er, sei Afghanistan auf dem Weg, "die größte humanitäre Krise der Welt zu werden". (Kim Son Hoang, 18.11.2021)