In Niederösterreich betrieb die Wiener Volkshilfe vier Kinderheime, darunter eines in Pitten. Die Heime waren abgelegen und die Bewohner oftmals von der Außenwelt isoliert, wie eine Studie aufzeigt. Heute werden Kinder in Wien in Wohngemeinschaften untergebracht.

Foto: Christian Fischer

Wenn du nicht brav bist, dann kommst du ins Heim: Diese Drohgebärde, die noch vor wenigen Jahren Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs vieler Eltern war, war für tausende Kinder Realität. Auch für viele Kinder aus Wien. Die Kinder galten als schwer erziehbar oder hatten schlicht Eltern, die sich nicht um sie kümmern konnten. Sie kamen in die Obsorge des Jugendamtes, das sie in entsprechenden Kinderheimen unterbrachte. Darunter waren Einrichtungen der Stadt selbst, aber auch sogenannte "Vertragsheime", die von privaten Trägern geführt wurden. Zum Beispiel von der Volkshilfe.

Dort kam es zu Gewalt, Missbrauch und struktureller Vernachlässigung. Zum Teil war das schon seit Jahren bekannt, nun wurden die Geschehnisse jedoch in vier von der Volkshilfe betriebenen Heimen wissenschaftlich untersucht. Es geht um die Heime in Altenberg, Pitten, Willendorf und Ybbs. Ein dreiköpfiges Forscherteam – Marion Wisinger, Michael John, Siegfried Göllner – arbeitete seit 2016 an einem über 200 Seiten starken Bericht, der dem STANDARD vorliegt. Darin wird "ein Stück Wiener Heimgeschichte" aufgearbeitet, schreiben die Autoren. Und das, obwohl sich die Heime allesamt in Niederösterreich befanden. Denn sie wurden von der Wiener Volkshilfe betrieben und vom Wiener Jugendamt mit Kindern beschickt.

Berichte und Aufzeichnungen

Die Studie versammelt Erfahrungsberichte von ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern, Aufzeichnungen aus internen Akten des Jugendamtes sowie aus Unterlagen der Volkshilfe. Die Untersuchung kam im Auftrag der Volkshilfe selbst zustande, nachdem sich Betroffene gemeldet hatten. Klar ist, dass der Heimalltag nicht für jeden Bewohner und jede Bewohnerin gleich aussah. In der Studie geht es jedoch explizit darum, einen Blick auf die "Schattenseiten der Fürsorgeerziehung" zu werfen.

Und diese Untersuchung zeigt, dass sich – wie in so vielen anderen Heimen auch – unerträgliche Skandale ereigneten, die jedoch von Verantwortlichen oft heruntergespielt, zugedeckt und nicht geahndet wurden. Heimleiter beteiligten sich mitunter nicht nur am aktiven Wegschauen, sondern missbrauchten laut Berichten von Betroffenen selbst Kinder. Verstärkt im Fokus der Untersuchung standen die größeren und am längsten betriebenen Heime: Altenberg und Pitten. Insgesamt wurden 40 ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner interviewt.

Alltag

Das Heim in Altenberg wurde in den Fünfzigerjahren eröffnet. Zuerst waren 84 Kinder dort untergebracht. Der pädagogische Grundsatz klang nach Aufbruch: "Die Erzieherinnen in unseren Heimen müssen im Geiste Pestalozzis den Kindern die Mutter ersetzen, damit sich die Kinder im Heim so geborgen fühlen wie in einer richtigen Familie", wurde damals schriftlich festgehalten. Wie die Realität für viele aussah, lässt sich etwa durch einen Erfahrungsbericht einer ehemaligen Bewohnerin erahnen, die in den Siebzigern dort lebte: "Man hat ja auch nur einmal in der Woche den Kleiderwechsel gehabt, das heißt, man hat auch eine ganze Woche die Unterhose angehabt (...) Und da war dann die eine (Erzieherin, Anm.), die so was ganz gern gemacht hat: Die hat mir die dreckige Unterhose dann in den Mund gestopft. Oder hat mir damit das Gesicht abgeschmiert."

Andere berichten davon, dass zwangsweise Essen gegeben wurde: Das Kind wurde auf dem Stuhl festgehalten, der Kopf in den Nacken gelegt und das Essen zwangsweise mit einem Löffel eingegeben. Mitunter auch Erbrochenes. Um 20 Uhr herrschte Bettruhe und Redeverbot. Manchen war der Gang zum Klo verboten, woraufhin die Betroffenen in Zahnputzbecher urinieren mussten – und dafür anschließend bestraft wurden. Immer wieder sei man für "zwei, drei Stunden" in der Klasse eingesperrt worden, erzählt ein Bewohner. Betroffene berichten zudem von sexuellem Missbrauch durch Heimleiter und Hausarbeiter. Die Studie ortet "immanentes Kontrollversagen" seitens der Volkshilfe und des Jugendamtes. Altenberg könne man, so das Resümee, in gewisser Abstufung wohl zu Skandalheimen wie dem Schloss Wilhelminenberg und Eggenburg zählen. 1981 wurde das Heim aufgelassen.

Geschlossenes System

Pitten hingegen wurde erst 2012 geschlossen. Somit bestand das 1968 eröffnete Heim am längsten. Betroffene berichten auch hier von Schlägen. Und auch von Missbrauch. Zuletzt im Jahr 2010, als einem langjährigen Sozialpädagogen sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden. Ermittlungen wurden aufgenommen, der Mann beging jedoch Suizid. Es war ein "System, das in sich geschlossen war", heißt es. Strafrechtliche Folgen sind den Studienautoren nicht bekannt – abseites eines Heimleiters, der aufgrund von Veruntreuung von Heimgeldern verurteilt wurde.

Und heute? Betreut die Volkshilfe hundert Kinder in elf sozialpädagogischen Wohngemeinschaften. Große Heime gibt es keine mehr, pädagogische Standards und eine neue Qualitätssicherung sollen Fehler der Vergangenheit verhindern – auch solche Missstände wie Arbeitsüberlastung, die ehemalige Betreuerinnen der WGs 2012 beanstandeten.

Offizielle Entschuldigung

Und man bemüht sich um Wiedergutmachung bei den Opfern: "Wir anerkennen diese Schuld, die wir auf uns geladen haben", sagt der Wiener Volkshilfe-Präsident Michael Häupl. Diese Vergangenheit sei "besonders bitter" für einen Träger wie die Volkshilfe, sagt Geschäftsführerin Tanja Wehsely, die selbst aus dem Feld der Jugendsozialarbeit kommt. "Jede Aufarbeitung bringt etwas", sagt sie. Heute sei man um öffene Häuser, Supervision und pädagogische Begleitung bemüht. Den Bericht übergab man Mittwoch den Betroffenen, es kam auch zu einer offiziellen Entschuldigung.

Was finanzielle Entschädigungen betrifft, verweist man auf jenen Fonds, den die Stadt Wien für Heimopfer zwischen 2010 und 2016 eingerichtet hatte und in dessen Rahmen 52 Millionen Euro ausbezahlt wurden. 98 Betroffene aus Altenberg, 53 aus Pitten und elf aus Ybbs hatten sich in den vergangenen Jahren bei der Opferschutzorganisation Weißer Ring, die den Fonds verwaltete, gemeldet, berichtet Historiker Göllner.

Heute könnten sich ehemalige Opfer an die Kinder- und Jugendanwaltschaft wenden, heißt es. Rechtlichen Anspruch haben sie auf die Heimopferrente, das allerdings erst im Pensionsalter. "Das ist eine Lücke", sagt Historikerin Wisinger. (Vanessa Gaigg, 18.11.2021)