Natascha Kampusch 2019 in Wien.

Foto: STANDARD / Christian Fischer

Im Frühling 1998 wird die zehnjährige Natascha Kampusch auf ihrem Schulweg entführt. Sie wird in einen weißen Kastenwagen gezerrt und bleibt über acht Jahre lang verschwunden. Bis zum 23. August 2006. Da klopft eine junge Frau an das Fenster eines Hauses im niederösterreichischen Strasshof und sagt: "Mein Name ist Natascha Kampusch, ich bin ein Entführungsopfer, bitte helfen Sie mir."

Ihre ganze Jugend hat sie in einem wenige Quadratmeter großen Raum unter der Erde verbracht. Der Täter schlägt sie, manipuliert sie und kontrolliert sie. Er lässt sie hungern, rasiert ihr Haar ab, teilt sie zu schwerer Arbeit ein, nimmt ihr den Namen und versucht das Gleiche mit ihrer Identität. Dazwischen gibt es eine Art Alltag: Opfer und Entführer essen gemeinsam, verlassen in späteren Jahren das Haus, Kampusch kann Medien konsumieren. Doch alles geht vorher durch die Hände des Täters – sie soll nicht wissen, dass jemand nach ihr sucht.

Die zweite Viktimisierung

Nachdem Kampusch sich befreit hat, erfasst ein gewissenloses Fieber die Presse. Das Haus, in dem sie gefangen war, wird von Medien und internationalen TV-Teams belagert. Sie bestürmen Anwohner*innen, Ärzt*innen und ihre Familie. Sie bedrängen die Polizistin, der sich Kampusch unmittelbar nach ihrer Flucht anvertraut hat. Noch am selben Tag erzählt diese vor Fernsehkameras Einzelheiten der Einvernahme. Das Medieninteresse ist so überwältigend, dass Kampuschs behandelnder Psychiater schon Tage nach ihrer Flucht vor einer "zweiten Viktimisierung" durch die Presse warnt.

Es gibt zu dieser Zeit nur zwei Bilder von ihr: Ein Kinderfoto mit Pagenkopf und kariertem Hemd, und Aufnahmen, wie sie nach ihrer Flucht mit einer Decke über dem Kopf in ein Polizeiauto steigt. Aber es gibt einen Brief. Kampusch schreibt ihn nur eine Woche nach ihrer Selbstbefreiung, ihr Psychiater verliest ihn auf einer Pressekonferenz. Ihr ist bewusst, welcher Medientrubel um sie ausgebrochen ist – und sie hat etwas zu sagen.

"Ich werde persönliche Grenzüberschreitungen, von wem auch immer, voyeuristisch Grenzen überschritten werden, ahnden. Wer das versucht, kann sich auf etwas gefasst machen", schreibt sie etwa. Damals richten Journalist*innen rührselige Texte an "ihre Natascha", die in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch das zehnjährige Kind ist. Doch Kampusch will gesiezt und mit ihrem vollen Namen angesprochen werden. Man könnte sie bewundern für ihr Selbstbewusstsein und ihre Stärke. Stattdessen trifft sie erst auf Verwunderung, dann Frust, dann fehlgeleitete Wut.

Kein Schwarz-Weiß

Vielleicht spielt dabei eine Rolle, dass es in ihrem Fall kein Verfahren gab. Ein Gerichtsprozess führt nicht nur zur Verurteilung eines Straftäters, er ordnet auch für die Öffentlichkeit ein, was geschehen ist. So dient er als kollektive Verarbeitung eines Verbrechens. Doch der Täter stirbt durch Suizid. Das Einzige, was von dem Fall bleibt, ist Kampusch selbst. Nun soll sie dabei helfen, ihr Trauma für das Land verstehbar zu machen. Nun soll sie Dinge sagen, die dabei helfen, es einzuteilen in Schwarz und Weiß.

Vor ihrem ersten Fernsehauftritt erwarten viele eine verstörte, gebrochene Person, deren Gesicht unkenntlich gemacht wird. 2,6 Millionen Menschen sehen zu, als Kampusch das erste Mal vor die ORF-Kameras tritt. Da ist sie 18 Jahre alt und ihre Flucht erst zwei Wochen her. Sie trägt einen fuchsiafarbenen Schal über dem Haar und blinzelt immer wieder ins helle Scheinwerferlicht. Natascha Kampusch zeigt sich, und sie will gesehen werden.

Ob sie sagen wird, was man hören möchte? Kampusch tut der Medienöffentlichkeit auch diesen Gefallen nicht. Die Fragen beantwortet sie ruhig, bedächtig und mit trockenem Witz. Sie beschreibt den Täter gleichzeitig als Psychopathen, der sie in Todesangst versetzt, und einen Versager, mit dem sie Mitleid hat. Auch von sich selbst zeichnet Kampusch ein differenziertes Bild. Sie ist kein hilflos ausgeliefertes Opfer – nicht nur. Dass sie leidet, dass sie unverschuldet in eine schwer fassbare Zwangslage gerät, steht außer Frage. Aber Kampusch bringt viel Kraft auf, um ihrem Entführer gegenüber Grenzen zu ziehen und diese zu schützen. Als der ORF-Journalist sich behutsam nach der Dynamik zwischen ihr und dem Täter erkundigt, sagt sie: "Ich glaube, dass ich stärker war."

Ein Mädchen, das ins Handy küsst

Kampusch sagt nicht, was man hören will, und tut nicht, was man möchte. Schon nach dem ersten Interview bricht zwischen dem Bild der "kleinen Natascha" und Kampusch eine Kluft auf. Irritation sickert in den Ton der offenen Briefe, die immer noch an sie gerichtet werden. "Sie sehen nicht wie ein Opfer aus. Sie sehen aus wie alle Mädchen, die ins Handy küssen", schreibt ein Kolumnist der "Bild" an sie. Und in einem anderen Brief tags darauf: "Liebe Natascha, wissen Sie, was ich in Ihrem Interview vermisst habe? Ich habe das kleine Mädchen Natascha vermisst. Natascha (10) kam nicht vor. Natascha (10) ist ein Wesen, das es nicht mehr gibt. Natascha (10) ist das Kind auf den Fahndungsfotos. Es ist wie gestorben, dieser Teiltod macht einen traurig. In der Nacht Ihres Interviews dachte ich an dieses Kind, das es nicht mehr gibt. Es wurde einem das Herz leer."

Die Kraft, die Kampusch ihr Überleben und Entkommen gesichert hat, ist nun genau das, was die Boulevardpresse stört. Die "zweite Viktimisierung" ist in vollem Gange. Kampusch schildert den Täter als komplexe Person. Medien diagnostizieren bei ihr via Ferndiagnose das Stockholm-Syndrom. Kampusch will über sexuelle Übergriffe während ihrer Gefangenschaft nicht sprechen. Der Boulevard hyperfokussiert darauf. Der Täter ließ Kampusch so hungern, dass sie zwischenzeitlich als Jugendliche weniger wog als bei ihrer Entführung. Als sie später zunimmt, wird jedes Kilo kommentiert.

Als sie knapp ein Jahr nach ihrer Flucht in eine Disco geht, dort mit einem jungen Mann tanzt, veröffentlicht "Heute" heimlich aufgenommene Fotos von ihnen. Vielleicht ist das der Punkt, an dem Kampusch erkennt, dass sie kein normales Leben wird führen können. Vielleicht wusste sie es auch schon länger. Jedenfalls gibt sie es auf, der unablässigen Berichterstattung entkommen zu wollen, und geht selbst in die Medien. So kann sie mitgestalten, wann, wo und wie sie auftritt.

Die zweite große Sünde

Im Sommer 2008 moderiert sie kurzzeitig eine Talksendung namens "Natascha Kampusch trifft" auf Puls 4. Endlich, könnte man meinen, gibt Kampusch der Medienöffentlichkeit das, was sie will. Stattdessen wird der Schritt in die Öffentlichkeit die zweite große Sünde der Natascha Kampusch. Michael Jeannée schreibt über das "verachtenswerte" Sendungskonzept: "Niemand wird aufregend finden, was Sie dem Politiker, dem Straßenbahner oder dem Society-Menschen entlocken. Aber alle, dass Sie es sind, die entlocken. Sie, die Kleine aus dem Priklopil-Keller …"

Das Land ist ihres Falles zu dieser Zeit müde. Ermittlungspannen, Polizeiversagen und Verschwörungsmythen rund um die Entführung beschäftigen Presse und Politik. Kampusch wird zur unerwünschten Erinnerung an das Verbrechen. Sie sei mediengeil, wird ihr vorgeworfen. Auf Facebook bildet sich eine Gruppe namens "Natascha Kampusch soll zurück in den Keller". Zuseher*innen könnten den Sender wechseln, wenn sie Kampusch nicht sehen wollen, Leser*innen ihre Zeitungsinterviews überspringen. Man könnte einem Verbrechensopfer zugestehen, dass es seine Erfahrungen zumindest teilöffentlich verarbeiten möchte. Man könnte verstehen, dass jemand, dessen Leben in Freiheit von Anfang an von Medien bestimmt war, deren Aufmerksamkeit irgendwann sucht, vielleicht auch braucht. Aber das geschieht nicht.

Also richtet sich Kampusch in den Jahren danach an dem prekären Punkt zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, zwischen der Verachtung und der distanzlosen Neugierde, die man ihr entgegenbringt, so gut wie möglich ein. Sie schreibt zusammen mit Dritten mehrere Bücher: "3096 Tage" (2010) über ihre Gefangenschaft, das verfilmt wird, "10 Jahre Freiheit" (2016) zum titelgebenden Anlass und das Buch "Cyberneider" über Hass im Internet (2019). 2017 entwirft sie eine Schmuckkollektion, deren Motiv eine Blume mit geknicktem Stängel ist. Der Knick steht für ihre Gefangenschaft, die Blüte für ihr Leben danach. (Ricarda Opis, 19.11.2021)