Man muss Politikern nicht unbedingt ihre Aussagen von gestern, vorgestern, voriger Woche oder vor einem halben Jahr vorhalten. Das wäre zu einfach. Auch und gerade Politikern muss man zugestehen, dass sie klüger werden können, dass sie zuhören und aus Erfahrung lernen können, dass sie ihre Meinung ändern, wenn auch die Situation sich ändert. Dass sie Fehler einräumen.

Ein weiterer Lockdown für alle scheint unausweichlich.
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Andererseits: Es ist haarsträubend, wie sich unsere Politiker derzeit aus dem Unsinn herauswinden, den sie noch vor wenigen Tagen von sich gegeben haben, wie sie ihre Meinung geändert haben, ohne Einsicht zu zeigen, wie sie sich selbst widersprechen, ohne sich zu erklären. Die Liste ist lang, und man könnte sie mit Sebastian Kurz beginnen, der im Sommer, unterstützt von einer Werbekampagne der ÖVP, erklärt hat, die Pandemie sei mehr oder weniger vorbei. Auch Vizekanzler Werner Kogler hat etwas von einem Sommer wie damals gesülzt.

Als vergangene Woche dann das Duo infernale aus dem Reich der Kreisverkehre, die Landeshauptleute von Oberösterreich und Salzburg, an die Öffentlichkeit trat, um zu versichern, es sei alles im Griff, es gebe keinen Handlungsbedarf, blieb einem schon der Atem weg. Zu diesem Zeitpunkt wusste man, und dafür brauchte man kein Experte sein: Das war fahrlässig und gemeingefährlich.

Immerhin machten sie eine Kehrtwende. Musste man nicht verstehen, konnte man auch nicht. War es Einsicht, der Druck der Medien? Wie auch immer, es kam der Lockdown für Ungeimpfte, dem folgte schließlich auch der Bund.

Und jetzt steht der Lockdown für alle im Raum. Erst in Oberösterreich und Salzburg, dann vielleicht bundesweit. Hat uns der Kanzler, Alexander Schallenberg heißt er gerade, nicht soeben erklärt: will er nicht, braucht es nicht, wird es nicht geben?

Verschleppte Maßnahmen

Bund und Länder ringen um eine Linie. Aber nicht einmal die Vertreter des Bundes sind sich einig, die Länder sind es auch nicht. Ein Lockdown für alle scheint unausweichlich. Weiterwursteln geht nicht mehr. Das legt das ungebremste Infektionsgeschehen nahe, das erzwingt die bedrohliche Situation auf den Intensivstationen, die in den nächsten Tagen und kommende Woche noch schlimmer werden wird.

Ja, das war vorhersehbar. Die Politik hinkt der Realität in einem tatsächlich lebensbedrohlichen Tempo hinterher. Was Bundesregierung und Landeshauptleute hingegen mit großer Effizienz betreiben: Sie hebeln ihre Glaubwürdigkeit aus. Maßnahmen werden verschleppt und verzögert, es wird taktiert, es wird Parteipolitik über die Basis von Fakten gestellt.

Niemand will blöd dastehen oder seinen Parteichef blöd dastehen lassen, schon klar; aber genau dieser Zugang der Realitätsverweigerung steht einem wirkungsvollen Vorgehen im Wege. Die Politik muss endlich raus aus ihrem intellektuellen Lockdown.

Niemand fordert leichtfertig einen neuerlichen Lockdown für alle, aber die Einsicht, dass wir einen radikalen Schritt brauchen, greift um sich. In Teilen der Politik und Teilen der Bevölkerung. Es ist eine schwerwiegende Abschätzung.

Die Entscheidung sollte auf Basis der Fakten getroffen werden – ohne Spielchen. Und sie sollte auf Augenhöhe kommuniziert werden, ohne diejenigen, die es betrifft, also uns alle, für dumm zu verkaufen. Sonst potenziert sich zum Unglück auch noch der Zorn. (Michael Völker, 18.11.2021)