Wäre es nicht gut, wenn jeder Mensch immer genug zum Leben hätte? Klar, denken nicht wenige. Weshalb immer wieder die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen laut wird. In der Schweiz gab es dazu vor rund fünf Jahren ein – erfolgloses – Referendum. Auch Initiativen in Österreich scheiterten bisher. Der belgische Philosoph Philippe Van Parijs fordert schon seit Jahrzehnten ein Grundeinkommen und ist optimistisch, dass sich die Idee letztlich durchsetzen wird.

STANDARD: Droht dem bedingungslosen Grundeinkommen eine Zukunft als prinzipiell gute Idee, die aber nie umgesetzt wird?

Van Parijs: Die Debatte ist wie Wellen am Strand, die Debatte kommt, zieht sich wieder zurück und kommt wieder. Aber seit der Pandemie ist sie zur Flut geworden. Es sind nicht nur ein paar Menschen hier und dort, die über das Grundeinkommen sprechen, sondern Millionen Menschen in aller Welt haben davon gehört und denken darüber nach, hunderttausende Menschen fordern es lautstark ein. In reiner Form existiert es nirgendwo auf der Welt, aber aus der öffentlichen Debatte wird es sich diesmal nicht so schnell wieder zurückziehen.

STANDARD: Warum?

Van Parijs: In der Pandemie wurde ein Tabu gebrochen, und zwar am unwahrscheinlichsten Ort: in Donald Trumps Vereinigten Staaten. Im Lockdown wurde vielen Millionen Amerikanern so etwas wie ein Grundeinkommen ausbezahlt. Eine Geldüberweisung ohne damit einhergehende Verpflichtung. Ein Großteil der US-Amerikaner hat sie bekommen. Die Idee, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht oder nur sehr schwer umsetzbar sei, wurde widerlegt.

STANDARD: In Österreich und anderen Ländern gab es die Kurzarbeit: Die Arbeitszeit wurde reduziert, der Lohn sank aber nur geringfügig. Das glich doch auch einem Grundeinkommen?

Van Parijs: Die Kurzarbeit hat weit weniger mit einem Grundeinkommen zu tun, sie ist nicht bedingungslos. Nur wer ein bestehendes Arbeitsverhältnis hat, konnte davon Gebrauch machen. Nicht aber Selbstständige. Für Arbeitslose gibt es in Ländern mit gut ausgebautem Sozialstaat bereits Geldleistungen. Die Dringlichkeit, ein Grundeinkommen einzuführen, ist in solchen Ländern sicher geringer. Aber gut ausgebaute Sozialleistungen machen es nicht überflüssig.

Philippe Van Parijs ist überzeugt, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen den Menschen Freiheit verleiht.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Warum?

Van Parijs: Es erhöht die Freiheit. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen jemals so hoch sein wird, dass man davon gemütlich im Wiener Stadtzentrum leben kann, ohne jemals zu arbeiten. Aber es gibt Menschen die Möglichkeit, die Arbeit zu unterbrechen, um eine Ausbildung zu machen. Oder sich um die eigenen Kinder zu kümmern. Oder um ein Unternehmen zu gründen. Der springende Punkt ist die Bedingungslosigkeit, dass man etwas Festes hat, mit dem man rechnen kann und auf dem man sein Leben aufbauen kann.

STANDARD: Viele Länder haben soziale Sicherheitsnetze.

Van Parijs: Aber wer ein Grundeinkommen hat, kann ins Sicherheitsnetz fallen, ohne das damit verbundene Stigma. Jetzt ist es ja so, dass der Anspruch auf Hilfe daraus erwächst, dass man arm ist. Beim Grundeinkommen wäre das nicht so. Es gibt Sicherheit, um Dinge auszuprobieren. Mir war das lange selbst nicht bewusst, aber das bedingungslose Grundeinkommen ist mehr wie Vermögen als wie ein Einkommen. Ein Einkommen hängt nämlich davon ab, was man mit seinem Leben macht.

STANDARD: Ein Grundeinkommen bedeutet also mehr Freiheit. Aber gibt es irgendwelche Belege dafür, dass Empfänger diese Freiheiten auch nutzen würden?

Van Parijs: Es gab einige Experimente, von den meisten lernen wir aber kaum etwas. Man hat mit zu kleinen Gruppen experimentiert, und die Experimente waren nicht immer sehr sorgfältig gemacht. Wenn Sie in Österreich ein Grundeinkommen einführen wollen, können Sie aus einem Experiment, das in Kenia oder Bangladesch gemacht wurde, kaum Rückschlüsse ziehen, wie die Menschen in Österreich darauf reagieren würden. Dafür sind die Institutionen und Gesellschaften vor Ort zu verschieden.

STANDARD: Es gab auch ein Experiment in Finnland.

Van Parijs: Das finnische Experiment ist das relevanteste, auch weil es mit der größten wissenschaftlichen Sorgfalt gemacht wurde. Zwischen Jänner 2017 und Dezember 2018 bekamen rund 2.000 Langzeitarbeitslose zwar den gleichen Betrag an Sozialhilfe ausgezahlt wie bisher, allerdings bedingungslos. Sie mussten sich für keine Jobs bewerben und auch keine Arbeitsangebote annehmen. Es war egal, ob sie allein oder mit jemandem zusammenwohnten. Sie konnten das Geld ausgeben, wofür sie wollten. Sie bekamen das Geld und wurden in Ruhe gelassen.

STANDARD: Was ist passiert?

Van Parijs: Im ersten Jahr gab es keinen Unterschied zwischen Langzeitarbeitslosen, die ihre Geldleistungen ohne Bedingungen bekommen haben, und anderen Langzeitarbeitslosen. Aber im zweiten Jahr haben die Empfänger des bedingungslosen Grundeinkommens im Schnitt ein paar Tage mehr gearbeitet, außerdem bewertete diese Gruppe die eigene Gesundheit besser. Sie hatten ein geringeres Stresslevel. Das Einkommen beider Gruppen war dasselbe. Aber das Experiment zeigt, dass das "bedingungslos" etwas mit den sozial schwächsten Menschen macht. Hat das Experiment gezeigt, dass so ein Modell nachhaltig finanzierbar ist? Nein. Hat es das Gegenteil gezeigt? Auch nicht. Hat es gezeigt, wie Menschen, die Arbeit haben, auf ein bedingungsloses Grundeinkommen reagieren würden? Nein.

STANDARD: Ein Grundeinkommen könnte am Arbeitsmarkt einiges durcheinanderbringen. Würden wir noch genügend Reinigungskräfte und Krankenpfleger finden?

Van Parijs: Es gibt eine perverse Korrelation: Attraktivere Jobs werden viel besser bezahlt als unangenehme Jobs. Es sollte umgekehrt sein. Jetzt ist es so, dass die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer mit bestimmten Qualifikationen größer wird. Das Grundeinkommen würde genau das Gegenteil bewirken, es würde die Verhandlungsposition der Schwächeren stärken. Derjenigen, die sonst keine Wahl haben, als einen unangenehmen Job anzunehmen. Was müsste passieren? Die Gehälter für unattraktive Jobs müssten steigen oder diese Jobs angenehmer werden. Das wäre sozial fair. Es gibt viele systemrelevante Jobs, die sehr anstrengend sind. Zum Beispiel Krankenpfleger. Jetzt könnte man einwenden, dass wir ohnehin schon zu wenige Krankenpfleger haben und ein Grundeinkommen die Situation noch schlimmer machen würde. Aber es gäbe genügend Geld, um das Einkommen von Pflegern anzuheben. Man muss diejenigen besteuern, die derzeit viel mehr verdienen. Die würden ihre Arbeit weiterhin machen, ihr Gehalt würde ja weiterhin über dem Grundeinkommen liegen.

STANDARD: Womit wir bei der Frage der Finanzierung wären. Viele behaupten ja, ein Grundeinkommen sei nicht finanzierbar.

Van Parijs: In entwickelten Sozialstaaten müsste das bedingungslose Grundeinkommen zusammen mit einer Reform der Einkommenssteuer eingeführt werden. Es würde sich dann großteils selbst finanzieren. Sozialtransfers, die unter dem Grundeinkommen liegen, würden gestrichen. Und Leistungen, die drüber liegen, wie etwa Pensionen, um den Betrag des Grundeinkommens gekürzt. Weil dadurch manche bessergestellt werden, entstehen zusätzliche Kosten für den Staat. Die kann er durch eine Reform der Einkommenssteuer finanzieren. Zum Beispiel würde die Steuerfreiheit für niedrige Gehälter fallen, man würde jeden verdienten Euro gleich mit 30 Prozent oder mehr besteuern. Die Spitzensteuersätze auf hohe Einkommen würden steigen. Ein Vorteil wäre, dass Menschen nicht mehr in Sozialleistungen gefangen werden. Wer etwa Arbeitslosengeld bekommt, wird nur arbeiten gehen, wenn das Gehalt hoch genug ist. Bei einem bedingungslosen Grundeinkommen wäre das nicht der Fall, das Grundeinkommen wird nicht gestrichen.

STANDARD: Und was ist mit Migration in die Sozialsysteme? Wenn Österreich ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen würde, würde das sicher viele Menschen anziehen.

Van Parijs: Ein Grundeinkommen verteilt den Wohlstand in einem Land um. Zwischen armen und reichen Ländern ist der Wohlstand bereits sehr ungleich verteilt, das ist unabhängig vom Grundeinkommen unfair. Vielleicht macht ein Grundeinkommen die Ungerechtigkeit sichtbar. Aber Fakt ist auch, dass Menschen bereits jetzt aus ärmeren in reiche Länder migrieren. Und auch jetzt, wo die Sozialleistungen nicht bedingungslos sind, können Menschen nicht einfach in den Sozialstaat migrieren. Letztlich ist es eine pragmatische Frage, wie man damit umgeht. Eine ähnliche Frage ist ja, ob Menschen auch im Urlaub das Grundeinkommen weiter beziehen sollen. Klar, wenn jemand eine oder zwei Wochen wegfährt. Aber was ist, wenn jemand dauerhaft in ein billigeres Land reist und dort mit dem Grundeinkommen auf großem Fuß lebt? (Aloysius Widmann, 21.11.2021)