Jede Annäherung gerät zur aggressiv-dysfunktionalen Attacke: Marianne (Sarah Viktoria Frick) und ihr Bräutigam Oskar (Nicholas Ofczarek).

Foto: Matthias Horn

Wien – Ödön von Horváth war so etwas wie der erste Femizid-Autor des Landes und hat in seinen Dramen schon vor 90 Jahren jenen patriarchalen Nährboden erforscht, der allen Verderben bringt – und den Frauen sehr oft den Tod. In Geschichten aus dem Wiener Wald (1931) überleben bis auf das Kleinkind Leopold physisch zwar alle, und doch ist es ein abtötender Verblendungskreislauf, dem die Vorstadtmenschen hier ausgeliefert sind. Genau da hinein leuchtet die Neuinszenierung von Johan Simons: Männer und Frauen, zugerichtet von patriarchaler Erziehung.

Am Burgtheater, wo am Donnerstag vor voll besetztem Haus die bejubelte Premiere gefeiert wurde, dreht sich dieses Dasein unter und inmitten eines Riesenmobiles, entworfen von Bühnenbildner Johannes Schütz: Von einem Querbalken hoch oben am Schnürboden hängen wenige Illustrationsobjekte wie Zitate der Vorstadtwelt: eine Giebelhausfront, eine Schaufensterkulisse mit Skelett und eine rätselhafte Glaskugel, in der sich die Zukunft lesen lässt oder auch nicht.

Wo sind die Sockenhalter?

Auf dieser sich behutsam bewegenden Scheibe – bei Bedarf kommt ein Steg oder ein Sitzkubus hereingeschoben – gehen die Horváth-Figuren ihren Geschäften nach, das heißt, sie winden sich in und erfolglos aus ihrem Unglück. Der Zauberkönig (Oliver Nägele) beispielsweise benützt seine einzige Tochter Marianne (Sarah Viktoria Frick) als Pfand für die Errettung seines maroden Scherzartikelgeschäftes – sie soll raschest den Fleischer Oskar (Nicholas Ofczarek) heiraten.

Vater und Tochter verbindet ein Herr-Dienerin-Verhältnis, in dem die Herbeischaffung von Sockenhaltern eine Rolle spielt, aber auch der töchterliche Gehorsam. Und so steckt der Verlobungsring schnell an ihrem Finger.

Oskar (Ofczarek) seinerseits wäre so gerne liebevoll, es tut bei ihm nur immer weh. Seine Annäherungen an Marianne gleichen aggressiv-dysfunktionalen Attacken. Küsse enden als Bisse; er hat es nicht besser gelernt, und er weiß es. Seinen Metzgerbauch trägt er wie das Fleisch gewordene Unbehagen vor sich her. Schmachvoll mit hängenden Armen steht er da, das Unvermögen in ihm eingekesselt. Mit dieser flirrenden Melancholiker-Performance kehrt Ofczarek nach zweijähriger Verschnauf- und Drehpause nun erstmals wieder auf die Burg-Bühne zurück.

Skulpturen, kauernd

Regisseur Simons setzt eine eigentümliche Körpersprache in Gang, in der die Figuren zu Skulpturen werden. Sie stehen allein da oder zu zweit oder zu mehrt zusammengedrängt, mal mit geschlossenen, mal mit gesenkten Augen; sie kauern oder liegen am Boden, summen oder halten gepresste kleine Ansprachen, um sich endlich verständlich zu machen.

Wirklich interessant wird Simons Lesart aber erst durch die Frauenfiguren bzw. die Marianne von Sarah Viktoria Frick. Ihre selfempowerte Braut ist zwar auch nur ein Mensch – sie verfällt dem Glitzerhallodri Alfred (Felix Rech) –, aber sie erweckt nie den Anschein, als Gelackmeierte dazustehen, wenn er sie mit Kind und ohne Unterhalt verlässt. Sie schlägt selber gerne zu und hebt, inzwischen im erotischen Etablissement angestellt, zu einem Tanz an, den noch kein Horváth gesehen hat: Mit der Baronin (Maria Happel) als Supporting Act verwurstet sie Insignien des Patriarchats und endet, gecremt und gefedert, mit vollbärtigem Antlitz. Es darf gelacht werden.

Da schlägt Simons alles Tranige in den Wind, diese Marianne ist ganz von heute. Am Theater geht es auch längst nicht mehr darum, jämmerliche Schicksale möglichst schmerzvoll-glaubhaft nachzubilden, sondern das Aufbegehren gegen sie mitzuinszenieren.

Sohnvergötterung

Allesamt bilden sie diverse Bausteine dieser Patriarchatslandschaft: Zwischen Selbstverleugnung und Selbstbehauptung changiert gekonnt Sylvie Rohrer als Trafikantin Valerie (Sylvie Rohrer), die stets äußerliche Harmonie herstellen will, wo keine ist. Die Großmutter (Gertrud Roll) gibt im schwarzen Kittel das Inbild eines eiskalten Patriarchen ab, und die Strizzi-Mutter (Annamária Láng) ist das Musterbeispiel für eine blindwütige Sohnesvergötterung.

Wie soll das enden? Simons setzt zu einem raffinierten Finale an, in dem sich während eines langen dysfunktional-groben Zwangswalzers von Marianne und Oskar (Musik: Mieko Suzuki) die Figuren, als wären sie nie da gewesen in alle Winde zerstreuen. Auch Marianne entschwindet allein. Wird sie Oskars Liebe entkommen? Kann sein. (Margarete Affenzeller, 19.11.2021)