Otto Bauer (1897–1986), Gründer und Vorsitzender des Bundes religiöser Sozialisten Österreichs, ist, zum Unterschied von seinem austromarxistischen Parteigenossen und Namensvetter Dr. Otto Bauer, als der "kleine" Otto Bauer dem österreichischen Geschichtsbewusstsein bis dato mehr oder weniger entgangen. Was insbesondere bisher gefehlt hat, ist eine Publikation der wichtigsten Schriften dieses authentischen Denkers und Agitators, die nun erstmals mit der kommentierten Edition von "Ausgewählten Schriften" durch den Zeuys-Verlag vorliegt, genauer: des ersten der drei geplanten Bände. Er enthält alle Artikel, die Bauer in der Zeitschrift "Menschheitskämpfer" von Jänner 1927 bis Jänner 1934 veröffentlicht hat. Der zweite Band, dessen Fertigstellung naht, wird Nachlasstexte Bauers ebenfalls zum politischen Kampf der religiösen Sozialisten einschließlich seines späten Rückblicks enthalten, während der dritte den bislang ebenfalls unpublizierten, religiösen, gesellschaftskritischen und existenzphilosophischen Betrachtungen vorbehalten sein wird, die Bauer während des Exils in den USA, etwa zwischen 1941 und 1970, verfasste.

Der erste Teil ist soeben erschienen.
Foto: Zeuys Verlag

Katholiken in der Arbeiterschaft

Bauer fand den Zugang zur Arbeiterbewegung nach der Volks- und Bürgerschule über eine kaufmännische Lehre, dann durch seine Tätigkeit als Metallarbeiter, bevor er der Sozialistischen Arbeiterpartei (SDAP) beitrat. Der Bund der religiösen Sozialisten (BRS), als Teilorganisation der SDAP 1926 gegründet und bis zum Parteiverbot im Februar 1934 offiziell existent, versuchte er zunächst, dem großen Anteil der Katholiken in der Arbeiterschaft gegen die politische Vereinnahmung der Religion durch Austrofaschismus und Christlichsoziale Partei eine eigene politische Basis zu verschaffen – innerhalb der Sozialdemokratie. Nachdem diese Bestrebung von Seiten der Kirche durch die Enzyklika "Quadragesimo Anno" Papst Pius' XI. vom Mai 1931 konterkariert wurde, rückte die spirituelle Arbeit für den Sozialismus auch abseits der katholischen Kirche zusehends ins Zentrum der BRS-Agenden, bei gleichzeitiger Verschärfung der Agitation gegen Faschismus und Nationalsozialismus.

Der gesamte politische Kampf des BRS fand literarischen Ausdruck in der von Bauer und Wilhelm Frank geführten Zeitschrift "Menschheitskämpfer", deren letzte Nummer im Jänner 1934 erschien. Nach dem Partei- und Vereinsverbot wirkte Bauer weiter in der Illegalität, namentlich für die "Revolutionären Sozialisten" um Joseph Buttinger, die Nachfolgepartei der SDAP. Unmittelbar nach dem "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland flüchtete Bauer Anfang April 1938 mit Familie in die Schweiz und nach Frankreich; dabei versah er noch gewisse Agenden für die Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES), bis er im Herbst 1940 in die USA emigrierte und sich 1941 endgültig aus der AVOES und Parteitätigkeit verabschiedete, indem er aus dem Scheitern der sozialistischen Politik gegenüber Faschismus und Nationalsozialismus hier, Kapitalismus da, die praktischen und geistigen Konsequenzen zog – "Abschied vom Sozialismus".

Religiöse Deutung des Weltgeschehens

Dafür etablierte er ein Netzwerk religiöser Gemeinschaft, im engen persönlichen und brieflichen Austausch mit wenigen Vertrauten, wie zum Beispiel Robert Friedmann in Kalamazoo, Raimund und Hilde Egger in Wien: Innerhalb dieses Zirkels kursierten maschinengetippte Schriften Bauers zur religiösen Deutung des Weltgeschehens und seiner Krisen (Abwurf der Atombombe, Kalter Krieg, kapitalistischer Imperialismus und so weiter) – eine apokalyptische und eschatologische Auslegung des aktuellen Geschehens und der Geschichte, die Bauer als das Phänomen und Problem der "Menschwerdung des Menschen" verstand – bis hin zur Neubewertung und abermaligen Thematisierung sozialistischer Politik, etwa anhand der südamerikanischen Befreiungstheologie. All das führte ihn zu einem ausführlichen "Rückblick auf das Wirken der religiösen Sozialisten", den er nach langjähriger Arbeit zu Beginn der 1980er Jahre abschloss. Ab 1945 bis 1969 versah Bauer übrigens seinen Brotjob an der "Buttinger Library" in New York; seine Urlaube verbrachte er allerdings öfters in Österreich, bis zuletzt. Bei einem Aufenthalt in Osttirol starb er am 10. August 1986.

Inspiration hatte Bauer zunächst in seinem Arbeitsumfeld aus dem christlich-sozialreformerischen Bereich empfangen (Karl von Vogelsang, Anton Orel), verschärft und erweitert durch Lektüren von Marx und dessen katholischen Interpreten wie Wilhelm Hohoff, aber auch durch Kontakt und Zusammenarbeit mit religiösen Sozialisten aus der Schweiz, Deutschland, Österreich und anderen Ländern, im Übrigen unterschiedlicher Konfessionen (unter anderem Leonhard Ragaz, Heinrich Mertens, Emil Eckert, Eduard Heimann – bis in den Kreis um Paul Tillich), in intensiver Auseinandersetzung auch mit dem gewaltlosen Befreiungskampf Gandhis. Darüber hinaus aber spannte sich Bauers späterer Themenkreis nicht bloß über die globale Politik, sondern von der Theologie im Verhältnis zur Anthropologie (Christologie; Sohnschaft, Geschwisterlichkeit) bis zur Philosophie (Kierkegaard, Nietzsche). Getragen war dies, ebenso wie schon Bauers religiöser Sozialismus, von einer radikal altruistischen Gesellschaftsethik des Von-sich-Absehens und des In-die-Fremde-Gehens, die der 2012 verstorbene Philosoph Michael Benedikt, der die nunmehr vorliegende Edition initiiert hatte und in dessen Armen Otto Bauer gestorben war, nicht müde war zu betonen. (Cornelius Zehetner, 23.11.2021)