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Welche Auswirkungen hat Großbritanniens EU-Austritt?

Foto: Getty Images / Sean Gladwell

Wie wirkt sich der Brexit auf unser Geschäft aus? Fünf Jahre lang beschäftigte diese Frage die Marktteilnehmer in der City of London so stark wie keine andere. Mit dem endgültigen Austritt des Vereinigten Königreichs aus Binnenmarkt und Zollunion zu Anfang dieses Jahres könne man sich endlich wieder anderen Themen zuwenden, hofften die Börsianer am größten internationalen Finanzplatz der Welt.

Weit gefehlt. "Den Brexit vollenden" – der Wahlslogan von Premierminister Boris Johnson wird zur schalen Erinnerung, weil seine konservative Regierung immer neuen Konflikt mit den EU-Nachbarn sucht: über Fischfangrechte im Ärmelkanal, über Nordirlands Wurstkonsum. Auch in Brüssel gibt es genügend Einflussreiche, die sich an Großbritannien abarbeiten und das abtrünnige Mitglied bestrafen wollen. Dabei haben sie auch die Finanzbranche im Visier.

Es gibt aber auch gegenläufige Entwicklungen. Anfang November verlängerte die EU-Kommission die bis dahin nur bis Mitte 2022 geltende Äquivalenz-Regel für Clearing-Häuser ohne zeitliche Beschränkung. In London wurde dies aufmerksam wahrgenommen – als freundliche, vor allem aber als pragmatische Geste. Eine kurzfristige Anordnung, das für sämtliche Finanztransaktionen eminent wichtige Abwicklungsgeschäft im Backoffice künftig nur noch in der Eurozone zu dulden, hätte die Stabilität der Märkte gefährden können.

Aktienhandel in Amsterdam

Hingegen dürften Kommission und Europäische Zentralbank wenig dagegen haben, wenn sich das Clearing-Geschäft langfristig und schrittweise in die Eurozone verlagert. So scheint es Euronext zu planen. Statt wie bisher von einer Tochter der London Stock Exchange abhängig zu sein, will der Börsenverbund von Amsterdam, Brüssel und Paris sein Clearing in Zukunft in Mailand abwickeln. Zudem soll die Datenspeicherung von England nach Bergamo verlagert werden.

Bereits Tatsache ist eine andere Folge des Brexits. Anfang des Jahres verlagerte sich der Handel mit europäischen Wertpapieren schlagartig von London nach Amsterdam. Praktisch über Nacht ergatterte die holländische Finanzmetropole im Aktienhandel Platz eins in Europa.

Die vor fünf Jahren vorhergesagten sechsstelligen Jobverluste sind bisher ausgeblieben. Dem Brexit-Tracker der Beratungsfirma EY zufolge waren schon vor Jahresfrist mindestens 7500 Jobs aus der City auf den Kontinent und nach Dublin abgewandert; heuer haben die Erbsenzähler dieser Bilanz lediglich weitere 100 Arbeitsplätze hinzugefügt.

Offenbar wogen alte Wettbewerbsvorteile doch schwerer, etwa die in Jahrhunderten gesammelte Markterfahrung oder der Wettbewerbsvorteil einer englischsprachigen Weltmetropole in einer Zeitzone zwischen der US-Ostküste und dem boomenden Markt in Ostasien.

Warten auf Zinswende

Sogar der Wirtschaftsstandort Großbritannien erhielt im November Auftrieb, wenn auch in einer wenig hippen Branche: Der Ölkonzern Royal Dutch Shell will die ersten beiden Teile seines Traditionsnamens aufgeben und die Hauptverwaltung aus den Niederlanden ganz nach London verlagern. Das sei, jubelte Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng, "ein klares Vertrauensvotum für die britische Wirtschaft".

Kabinettskollege Rishi Sunak, für die Finanzen der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt zuständig, wird etwaige zusätzliche Einnahmen durch Shells Verlagerung gern sehen, stehen der Insel doch unruhige Zeiten bevor. Die Inflationsrate lag der Statistikbehörde ONS zufolge im Oktober bei 4,2 Prozent – nicht nur um mehr als ein Prozent über der Teuerung des Vormonats, sondern auch so hoch wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr.

Schon im November hatten die Analysten in der City von Zentralbank-Gouverneur Andrew Bailey und seinem Monetärausschuss eine Erhöhung des Leitzinssatzes vom derzeitigen Niedrigstand von 0,1 Prozent erwartet. Kaum vorstellbar, dass es bei der nächsten Sitzung kurz vor Weihnachten nicht tatsächlich dazu kommt. Denn eigentlich strebt die Bank of England auftragsgemäß eine Inflation von zwei Prozent an.

Entwicklung am Arbeitsmarkt

Mit Argusaugen haben die Zentralbanker die Entwicklung am Arbeitsmarkt verfolgt. Bis Ende September hatte Finanzminister Sunak mit großzügiger Kurzarbeitsregelung während der Corona-Pandemie den Unternehmen die Erhaltung vieler Jobs ermöglicht, die nach Auffassung der einschlägigen Spezialisten längst obsolet geworden waren.

Doch das erwartete Blutbad am Arbeitsmarkt blieb aus, im Gegenteil: Im Oktober stieg die Zahl der dauerhaft Beschäftigten um 160.000, was einer Beschäftigungsquote von 75,4 Prozent entspricht. Die Arbeitslosigkeit lag bei vergleichsweise niedrigen 4,3 Prozent.

Das wiederum dürfte nicht zuletzt dem Brexit geschuldet sein: Wer arbeiten kann und will, braucht dieser Tage nicht lang zu warten. In vielen Branchen suchen die Arbeitgeber händeringend nach Einheimischen, welche die ungeliebten Jobs übernehmen könnten, die von EU-Bürgern verlassen wurden. Metzger und Schreiner, Kellner und Verkäufer, Erntehelfer und Bäcker – allerorten klagen die Arbeitgeber auf der Insel über eklatanten Personalmangel.

Mit dem EU-Austritt hat offenbar auch die Verschlechterung der britischen Handelsbilanz zu tun. Im September vergrößerte sich das Handelsbilanzdefizit auf 2,8 Milliarden Pfund (3,34 Mrd Euro). "Daran ist der Brexit schuld", sagt die Volkswirtin Gabriella Dickens vom Berater Pantheon Macroeconomics. (Sebastian Borger, Magazin "Portfolio", 2.12.2021)