Eigentlich kann sich Erika Polak* nicht beschweren. Das sagt sie auch selbst. Sie kommt um sieben Uhr in die Arbeit und geht um vier nach Hause – an vier Tagen pro Woche. Die Kellnerin mag ihr bunt gemischtes Publikum – vom Müllmann über den Banker bis zu den Kreativen ist alles vertreten. Ihr gefällt die gemütliche Atmosphäre, selbst wenn es hinter den Kulissen hektisch wird. "Ich finde es einfach cool, wen man den Leuten trotzdem keinen Stress vermittelt", sagt Polak.

37 Euro pro Monat werden als Trinkgeldpauschale für die Berechnung der Pension herangezogen.
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Für ihre Arbeit verdient die Kellnerin, die Anfang 30 ist, in einem Wiener Café, in dem sie seit mehreren Jahren beschäftigt ist, 2.000 Euro netto. Im Gegensatz zu den meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern speist sich dieser Betrag aber nicht nur aus Zahlungen ihres Arbeitgebers, sondern bei Polak kommt gut die Hälfte ihres Gehalts aus dritter Hand: Es ist Trinkgeld.

Was in der Branche und gesamtgesellschaftlich relativ unhinterfragt ist, birgt mitunter aber massive Probleme. Auch für Polak. Denn als der Betrieb seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kurzarbeit schickte und mitunter monatelang geschlossen war, zuletzt diesen Herbst, war auch das Trinkgeld nicht mehr da, und die Kellnerin musste mit 900 Euro auskommen.

Ein vermeintlicher Vorteil

Auf einmal fehlte Polak, die ihren Alltag großteils mit Trinkgeld bestreitet und deren Nettolohn hauptsächlich die Fixkosten tilgt, ein Tausender im Monat, und das mitunter monatelang. "Würde ich mir meine Wohnung nicht mit meinem Freund teilen, hätte ich ausziehen müssen", ist sich Polak sicher. "Dann gab es diese netten Versuche eines Trinkgeldersatzes", sagt die Kellnerin. Aber die zwei Zahlungen von einmal 50 Euro und einmal 100 Euro, die sie bis Herbst 2021 erhielt, hätten für sie auch nichts geändert. Polak: "150 Euro sind zwei Dienste." Im bis dato letzten und für die Wiener Gastro vierwöchigen Lockdown war Polak erneut in Kurzarbeit und das Lokal komplett geschlossen. Zusätzlich zu den 90 Prozent Lohnersatz erhält sie noch fünf weitere Prozent des Lohnes als Trinkgeldersatz, der diesmal separat ausgezahlt wird. Darauf wartet sie aber noch.

Trinkgeld macht die Arbeit im Café, Restaurant oder Club kurzfristig sehr attraktiv und ist in der Branche ein essenzieller Teil des Verdiensts. Wie viel Trinkgeld jährlich in Österreich über den Tisch gereicht wird, ist aber unklar. Die Statistik Austria schätzte, dass im Jahr 2011 in Hotellerie und Gastronomie etwa 1,2 Milliarden Euro Trinkgeld gegeben wurden.

Das entspricht rund 30 Prozent der regulären Bruttolöhne in der Branche. Kleinvieh macht auch Mist – in Summe ziemlich viel. Was für Studentinnen und Studenten neben der Uni ein vergleichsweise üppiges Gehalt ergibt, kann aber für jene, die länger in der Gastro bleiben, zum Problem werden. Nicht nur in der Kurzarbeit, vor allem in der Pension.

Entgelt von dritter Seite

Bei Trinkgeld handelt es sich nicht um Schwarzgeld, dass es nicht versteuert wird, ist vollkommen legal. "Der Kern des Problems ist, dass Trinkgeld ein Entgelt von dritter Seite ist", sagt Sabine Kirchmayr-Schliesslberger, Vorständin des Instituts für Finanzrecht an der Universität Wien.

Was es für einen Wirt bedeuten würde, am Ende jedes Monats das Trinkgeld der einzelnen Kellner zu erfassen, kann man sich vorstellen: einen enormen Zusatzaufwand. Der Gesetzgeber hat sich daher für eine simple Lösung entschieden. Er hat das Trinkgeld einfach von der Steuer ausgenommen, damit wird es auch nicht erfasst – aber auch für die Kurzarbeit nicht berücksichtigt.

Eigentlich, sagt Kirchmayr-Schliesslberger, wäre Trinkgeld lohnsteuerpflichtig. Durch eine eigene Bestimmung im Einkommenssteuergesetz ist es aber explizit davon ausgenommen. Das sei eine Verwaltungsvereinfachung für die Branche, erklärt die Juristin. "Und eine Begünstigung, die den Angestellten aber jetzt um die Ohren geflogen ist."

Die Höhe des Trinkgeldersatzes wird nicht nur von Polak als wenig hilfreich kritisiert, sondern auch von der Gewerkschaft. Kirchmayr-Schliesslberger: "Man kann es positiv sehen, man hat das Problem mit dem Trinkgeldersatz erkannt, aber er ist nicht nachhaltig, man hat sich nicht genug damit beschäftigt." Für Betroffene ist das wohl kaum ein Trost.

Wesentlicher Lohnfaktor

Erich Auer ist bereits seit 30 Jahren in der Branche. Nachdem er "ein bisschen herumstudiert" hat, wie er sagt, begann er zu kellnern. Er ist dem Beruf seither treu geblieben. Hauptsächlich verbrachte er die Zeit in zwei Kaffeehäusern. Auch für ihn ist Trinkgeld ein wesentlicher Lohnfaktor, denn der kollektivvertragliche Mindestlohn ist österreichweit nicht sehr hoch.

In Wien steigt man als Servicepersonal ohne Fachausbildung im Kaffeehaus mit 1.575 Euro brutto ein und landet nach 20 Dienstjahren bei 1.733 Euro. Auf dem Lohnzettel von Erich Auer stehen weniger als 1.500 Euro netto, "aber beim Trinkgeld steht in guten Monaten schon einmal ein Zweier davor", sagt Auer.

Speziell in Kaffeehäusern sind die Gäste spendabel. "Das wissen auch die Betreiber, deswegen bekommt man fast nirgendwo mehr als den Mindestlohn", sagt Auer. Als das Wiener Café, in dem er arbeitet, geschlossen war, sah der Kellner einmalig im Frühjahr 2021 175 Euro Trinkgeldersatz. Im jüngsten Lockdown war er nicht in Kurzarbeit sondern brauchte wie auch der Rest der Belegschaft des Cafés seinen Urlaub auf. Da er aber in den vergangenen Kurzarbeitsmonaten weiterhin Urlaubsansprüche erwarb, findet Auer das auch "ok".

Pauschale für Pension

Für Auer, der Anfang 50 ist, rückt die Pension näher, und auch dabei spielt das Trinkgeld eine gewichtige Rolle – jedenfalls das dann fehlende. Im Gegensatz zum Steuerrecht ist Trinkgeld bei der Sozialversicherung sehr wohl miteinzubeziehen. Damit Betreiberinnen und Betreiber aber nicht das gesamte Trinkgeld ihres Personals abzählen müssen, gibt es im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz für Sozialversicherungsträger die Möglichkeit, eine Trinkgeldpauschale festzulegen, was auch alle neun Kassen in Anspruch nehmen. Die Pauschale hat aber wenig mit dem tatsächlichen Trinkgeld zu tun.

So wird in Wien für Kellner mit Inkasso gerade einmal 37 Euro für den Kalendermonat veranschlagt, damit fließt auch nur wenig in die Altersvorsorge. "Um die Pension musst du dich selber kümmern", resümiert Auer. "Wenn du das nicht tust, bist du bei der Mindestpension." Seine persönliche Pensionsvorsorge stecke in einem Einfamilienhaus, so Auer. Öffentliche Kritik an diesem System hört man selten. Warum eigentlich?

"Wer sollte denn aufstehen?", antwortet Arbeitsrechtler Martin Gruber-Risak mit einer Gegenfrage. Der Jurist ist ebenfalls an der Uni Wien tätig und erklärt: Die Arbeitgeber freuten sich, wenn sie geringe Beiträge zur Sozialversicherung zahlen, sie haben dadurch schließlich auch keinerlei Nachteil.

Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sei es ein zweischneidiges Schwert: Jetzt haben sie mehr im Börsel, wie gerne gesagt wird, in der Pension schauen sie aber durch die Finger. "Die Einzigen, die aufstehen könnten, wären die Arbeitnehmer selbst oder deren Vertreter, die sie zwangsbeglücken würden nach dem Motto: Ihr zahlts jetzt höhere Beiträge und kriegts dafür weniger raus, damit es sich, wenn ihr alt seid, ausgeht."

Zwangsbeglückung

In einer Zeit, in der es aber dauernd darum geht, wer "mehr Netto vom Brutto" bekommt, wird man damit aber wohl kaum jemanden begeistern können. Das sei aber der Unterschied zwischen kurzfristiger und langfristiger Politik, sagt Gruber-Risak: "Die Leute wollen jetzt weniger einzahlen und beschweren sich später. Daran etwas zu ändern würde Paternalismus bedeuten. Ich finde, Politik muss aber manchmal paternalistisch sein. Das ist jedoch nicht der Mainstream dessen, wie die Politik rüberkommen will – und auch nicht, wie die Wähler behandelt werden wollen."

Dass die Lage nicht einfach ist, zeigt auch die Antwort der Gewerkschaft Vida auf Anfrage des STANDARD: "Es ist richtig, dass dies (die Pauschalierung, Anm.) auch bei der Pensionsberechnung einen positiven Effekt hat, jedoch würde eine Anhebung dieses Betrages dazu führen, dass die Arbeitnehmer monatlich in ihrem aktiven Berufsleben weniger Netto bekommen würden."

Das sei nicht der gewerkschaftliche Zugang, daher würde die Gewerkschaft dem auch nicht zustimmen. Vielmehr brauche es deutlich höhere Löhne, so die Gewerkschaft. Für viele würde das wohl zu einem entspannteren Lebensabend führen – vor allem, wenn man sich nichts zur Seite legen konnte.

Niedrige Fixkosten

"Als junger Mensch wollte ich eigentlich nie in einem Büro arbeiten", sagt Livia Schneider*. Die Kärntnerin habe sich gedacht: "Kellnern – das kann eh jeder, und das macht sicher Spaß, und da kriegt man gleich ein Geld. Und so war’s dann auch." Schneider hat ihr gesamtes Berufsleben in der Gastronomie verbracht und arbeitet jetzt in einem Café ein wenig außerhalb des Klagenfurter Zentrums. Sie verdient 1.300 Euro netto und kommt auf 250 bis 300 Euro Trinkgeld im Monat.

"Jetzt haben sie mehr im Börsel, in der Pension schauen sie aber durch die Finger."
Foto: Matthias Cremer

Schneider, die mit ihrem Mann zur Miete wohnt, lebt schon ihr Leben lang so, dass sie ihre Fixkosten niedrig hält. "Weil man immer damit rechnen muss, dass man seine Arbeit verliert, und wenn man arbeitslos ist, muss man sich’s ja auch noch leisten können", sagt Schneider. Trotzdem: Ein paar Monate länger in der Kurzarbeit, und die Ersparnisse wären weg gewesen. Auch in Kärnten ist das Trinkgeld pauschaliert auf rund 40 Euro im Monat.

Zusammen mit dem kleinen Kollektivvertrag ergibt sich eine bescheidene Beitragsgrundlage. Im Gegensatz zu Auer hatte Schneider aber nie die Möglichkeit, sich etwas auf die Seite zu legen, wie sie erzählt. Der Traum von der Selbstverwirklichung in der Pension ist für andere reserviert. "Nach Spanien auswandern in der Pension werd ich nicht können", sagt Schneider. "Ganz allein wäre es wahrscheinlich noch schwieriger. Zu zweit geht das alles ein bisserl leichter."

Anti-Trinkgeld-Liga

Während Trinkgeld heute kaum grundsätzlich diskutiert wird, gab es in der Vergangenheit bereits Versuche von verschiedenen Seiten, das Trinkgeld gänzlich abzuschaffen. Um die Jahrhundertwende machten Bewegungen wie die Anti-Trinkgeld-Liga oder der Verband der Gastwirtsgehilfen Stimmung gegen die weitverbreitete Sitte, Trinkgeld als fixen Lohnbestandteil zu sehen.

Während die einen aus einer christlich-sozialen Ideologie heraus meinten, das Trinkgeld untergrabe Sittlichkeit und Moral, indem es etwa bei Kellnerinnen die Grenze zur Prostitution verwische, befanden die anderen das Trinkgeld als Selbstdemütigung des Bedienungspersonals und verlangten angemessene Löhne.

Auch war der einzelne Kellner, der versuchte, sein Trinkgeld zu maximieren, "kaum ein klassenbewusster Vertreter seiner Berufsgruppe", wie der Historiker Winfried Speitkamp in Der Rest ist für Sie! Kleine Geschichte des Trinkgeldes schreibt.

Trinkgeld und Sittenverfall

All die Versuche, die "Unsitte" zu bekämpfen, ob von staatlicher oder Vereinsseite, blieben jedoch erfolglos. Das zeigt ein Blick auf frühere realsozialistische Staaten wie die Sowjetunion oder die DDR, in denen Trinkgeld als bourgeoises Relikt angesehen wurde, aber auch der Blick in die USA, in denen die "Tipers Anonymous" noch in den 1950er-Jahren gegen die kleine Spende agitierten.

Trinkgeld abzuschaffen scheint also ein Ding der Unmöglichkeit, und das, obwohl ein Großteil der Trinkgelder in sogenannten One-Shot-Situationen gegeben wird, also in Momenten, in denen man nicht davon ausgeht, das Gegenüber jemals wiederzusehen und sich daher keinen materiellen Vorteil oder bessere Bedienung in der Zukunft erwarten kann.

Ökonomisch betrachtet ist es also für den Geber oder die Geberin irrational, überhaupt Trinkgeld zu geben. Trotzdem wird es erwartet, denn wer es empfängt, ist meist davon abhängig. (Levin Wotke, Magazin "Portfolio", 25.12.2021)