Was hier bei einer Demo vor der ÖVP-Zentrale geäußert wurde, dürfte bald für einen Großteil der enttäuschten Wählerschaft gelten.

Foto: Robert Newald

Die vergangenen Tage und Wochen haben gezeigt, dass das politische System Österreichs dysfunktional ist. Die türkis-grüne Regierung unter Sebastian Kurz hat den zweiten Sommer verplempert und Österreich in den zweiten katastrophalen Pandemieherbst geführt. Seine Nachfolger stolpern zerstritten weiter.

Keine Rede von "raschem Handeln", wie es der Bundespräsident verlangte. Wir müssen wieder schwere Grundrechtseingriffe – Lockdown – akzeptieren, um die vierte, bisher stärkste Welle halbwegs abzufangen. Österreichs Politik ist das, was Sebastian Kurz abfällig über die "südlichen Staaten" Europas sagte: "im System kaputt".

Woran liegt’s? Warum funktioniert es nicht? Woher diese geballte Inkompetenz? Und was muss sich für die Zukunft ändern?

Da ist zunächst die "Realverfassung". Der Gesundheitsminister könnte theoretisch längst Einschränkungen verordnen, aber die Landeshauptleute wischten das weg. Kanzler und Gesundheitsminister müssen für wichtigste Entscheidungen in einem fernen Tiroler Tal antreten, wenn dort die Landesfürsten gerade tagen.

Wandel im Politikstil

In diversen Schubladen schlummern Konzepte für Staatsreform, Föderalismusreform, sogar Wahlrechtsreform. Daraus wird nichts, das kann man getrost annehmen.

Kurzfristig liegt es eher am Wandel im Politikstil, an einer historischen Verschiebung in der Art, wie Politik angesehen und gemacht wird. Und wie politisches Führungspersonal ausgesucht wird, hochkommt und sich an der Spitze hält.

Das eklatante Versagen der Politik der vergangenen Jahre verlangt nach einer "Wende": Schluss mit dem inhalts- und einfallslosen "Weiter so" traditioneller Politik; aber auch Schluss mit den populistischen Inszenierungen; Neubeginn mit seriösen, charakterlich ausbalancierten Verantwortungsträgern.

Im jüngsten Vierteljahrhundert ist etwas mit der österreichischen (und teilweise auch europäischen) Politik passiert:

1. Das Aufkommen eines hemmungslosen, verantwortungslosen Populismus.

Die Populisten trugen bewusst Spaltung in die Bevölkerung. Das Schüren von Gegensätzen galt als Erfolgsrezept. Ein psychologisch ungeheuer wirksamer Spruch war der von Jörg Haider aus dem Jahr 1994: "Sie sind gegen ihn. Weil er für euch ist." Diese klassische Verschwörungserzählung drückt aus, dass es unheimliche, verborgene Mächte gibt ("die da oben", "die Eliten", heute: "Bill Gates" und "George Soros"), die die "Fleißigen und Anständigen" (Haider) irgendwie betrügen, unterdrücken und kleinmachen wollen.

Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wähler in einem der wohlhabendsten, sozial am besten abgesicherten Länder der Welt ist bereit, das zu glauben. Haider erreichte am Höhepunkt bei den Wahlen 1999 26,9 Prozent. Ohne seine erratische Persönlichkeit hätte er Kanzler werden können.

2. Das Ende der pragmatischen Konsenspolitik.

Der Erfolg der Populisten machte die alte, herkömmliche Generation von Politikern hilflos und desorientiert. Nach dem Krieg betrieb man eine intensive Konsenspolitik. Das wurde von den Populisten erfolgreich als "Packelei" denunziert. Das war sie auch, aber sie sorgte vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten für Stabilität und ermöglichte große Projekte.

Der EU-Beitritt, auch die Sanierung der Verstaatlichten Industrie waren gemeinsame Projekte von Franz Vranitzky und Alois Mock. Die Koalition Wolfgang Schüssel / Jörg Haider pfiff auf den Konsens. Die nachfolgenden rot-schwarzen Koalitionen hatten weder überzeugende Persönlichkeiten noch gemeinsame große Projekte.

3. Der Übergang zur reinen Show- und Inszenierungspolitik.

Populismus war erfolgreich und wurde ansteckend. Die traditionelle Politik glaubte ihr Heil nur noch in einer umfragegetriebenen, marketinggeformten, mediengetriebenen, aber auch medienmanipulierenden Politik zu finden. Ein Populismus der etablierten Parteien. Die SPÖ unter Werner Faymann versuchte ihre Inhaltslosigkeit durch Medienmanipulation und Medienkauf zu kompensieren. Aber das konnten andere genauso gut.

Die Kanzlerpartei SPÖ fand ihren Meister in Sebastian Kurz, der mit ausgeklügeltem, vollkommen umfrageabhängigem Themenmanagement, mit Message-Control und für Staatsanwälte interessanten Methoden zuerst die ÖVP, dann das Kanzleramt unter seine Kontrolle brachte. Es war erfolgreicher konservativer Populismus.

Eine Komponente der Inszenierungspolitik ist aber, dass sie nur mit attraktiven, oft auf halbseidene Weise charismatischen Persönlichkeiten funktioniert. Haider war eine solche, Karl-Heinz Grasser auf seine etwas eingeschränktere Art auch und selbstverständlich Sebastian Kurz. Bis die Öffentlichkeit erkennt, dass es sich um jugendliche Blender ohne viel Substanz handelt, ist schon viel Schaden angerichtet.

Die Megatrends Populismus und Inszenierungspolitik münden aber zwangsläufig in einer entsprechenden Personalauswahl. Medientaugliche, fein geföhnte Typen müssen es sein, bis zur Unwirklichkeit gecoacht oder mit messianischem Auftreten. Gelernt haben sie außer Inszenierung meist nichts.

4. Verlust der Regierungsfähigkeit.

Der Haken am Populismus ist aber, dass er auf Dauer nicht regieren kann. Er kann keine unpopulären Entscheidungen fällen. Populismus ist auch immer spalterisch und nie inklusiv. Nach dem Politologen Jan-Werner Müller lautet der "Kernanspruch aller Populisten stets ungefähr so: Wir – und nur wir – repräsentieren das wahre Volk."

Das schließt automatisch große Teile der Bevölkerung aus, ob das nun Zuwanderer sind oder jene Familien, wo "nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen" (Kurz). Populismus ist antipluralistisch und führt am Ende zum System der illiberalen Demokratie eines Viktor Orbán.

Der konservative Populismus der Türkisen findet daher in einem nationalen Notstand wie dem jetzigen keinen Weg, die Opposition und/oder andere gesellschaftliche Kräfte, die Zivilgesellschaft, zu einer Lösung mit einzubeziehen. Wobei ein großer Teil der Opposition, die rechtspopulistische FPÖ, sich inzwischen im absoluten Irrationalismus bizarrer medizinischer Rosskuren, aber auch in Staats-und Demokratiefeindlichkeit verirrt.

Populismus ist immer auch sektenhaft. In seinen ironischen Anleitungen Populismus für Anfänger empfiehlt der Kulturwissenschafter Walter Ötsch: "Schaffen Sie sich eine sektenhafte Organisation." Die Sekte verlangt nach einem inneren Kreis, der sich um den Guru schart. Haiders "Buberlpartie" und Kurz’ konservativ-katholischer Beraterkreis.

Das bedeutet aber, dass der normale Verwaltungsapparat, die Ministerien, unwichtig werden und mit loyalen Leichtgewichten besetzt werden. In der Krise agieren diese Personen aber eher hilflos wie Elisabeth Köstinger ("Die Wintersaison ist vorrangig"). Mit Sekten kann man Gläubige schaffen, aber keinen Staat regieren.

Der Populismus aller Parteien findet daher auch keinen Weg, gegen die vermutete Volksmeinung das Unangenehme, aber Notwendige auszusprechen – und zu entscheiden.

Der oberösterreichische und der Salzburger Landeshauptmann verschlossen fest die Augen vor den rasant steigenden Infektionsfällen, der eine wegen der Wahlen und weil er mit der impffeindlichen FPÖ koalieren wollte, der andere aus Überheblichkeit ("Virologen wollen die Leute am liebsten in ein Zimmer sperren ...").

Jetzt müssen die Bürger doch wieder in ihre Zimmer gesperrt werden. Das Ergebnis ist erwartbar: "Wir sind sauer. Megasauer."

Was kommt? Manche wie Oliver Rathkolb, Zeithistoriker und Autor eines Standardwerks (Die paradoxe Republik), denken jetzt an eine "Expertenregierung der Vernunft". Nachsatz: "mit parlamentarischer Mehrheit".

Das ist das Problem. Der Bundespräsident könnte die jetzige Regierung ohne Weiteres entlassen und eine Expertenregierung einsetzen. Aber ohne parlamentarische (Duldungs-)Mehrheit kann sie nicht existieren – und diese müsste die ÖVP oder die FPÖ liefern. Das ist extrem unwahrscheinlich.

5. Abkehr von Inszenierung und Heilsbringern.

Kurzfristig wird sich die türkis-grüne Koalition weiterfretten. Im Hintergrund wird an einer Rot-Grün-Neos-Koalition für die Zeit nach etwaigen Wahlen im Frühjahr gearbeitet, mit Michael Ludwig als SPÖ-Spitzenkandidat.

Davon abgesehen: Jetzt wäre die Zeit für besonnene, unspektakuläre Managerpolitiker, die unangenehme Maßnahmen mit persönlicher Autorität verkaufen können und dafür nicht einen kompaniestarken Beeinflussungsapparat brauchen. Günstig wären Politiker, die in ihrer Karriere schon mehr gesehen haben als Coachingseminare und Umfragetabellen. Politiker, die, wie Peter Filzmaier und Sora-Chef Christoph Hofinger empfehlen, "ihr Verhältnis zur Wissenschaft neu definieren", sprich, auf sie hören.

Das türkise Personal stammt entweder aus der Junge-Volkspartei-Clique oder wurde wegen vollkommener Uneigenständigkeit ausgesucht. Aber auch die Grünen erlagen der Versuchung der Marketingpolitik und suchten als neuen Gesundheitsminister einen coolen Doktor der Medizin aus. Zwar ein "Fachmann", der aber mitten in der Krise erst lernt, wie Politik funktioniert und wie man sich durchsetzt.

Reformen im Gesundheitssystem sind notwendig. Aber viel mehr muss sich die innere Einstellung der Politik zu sich selbst ändern. Heilsbringern ist zu misstrauen. Seriosität, Kompetenz und Lebenserfahrung sind ins Premiumangebot zu nehmen. Auf Inszenierungskünste und Medienkorruption ist zu verzichten.

6. Das Modell Mario Draghi.

Das geht nicht? Zu einem solchen Umdenken ist die Politik nicht imstande? In Italien, mit seinen linken und rechten Populisten, war es möglich. Italien steht nach chaotischen Anfängen in seiner Corona-Politik viel besser da als Österreich.

Eine Koalition der verzweifelten Vernünftigen einigte sich auf den international erprobten, nüchternen Mario Draghi. Er brachte Ruhe und Kompetenz ins "kaputte" System. (Hans Rauscher, 20.11.2021)