Anfangs galten sie vor allem als Kuriosum: jene Menschen, die 2015, am Höhepunkt der damaligen Migrationskrise, die Fluchtrouten übers Mittelmeer und den Balkan mieden und ihr Glück lieber weiter nördlich versuchten. Fast schien es, als sollten Berichte von der "Polarroute" über Russland und Norwegen ein wenig Ablenkung bringen von den trostlosen Nachrichten über gekenterte Flüchtlingsboote, vom Sterben in den Fluten der Ägäis, von überfüllten Lagern in Griechenland.

Sechs Jahre später hat sich der Fokus der Aufmerksamkeit tatsächlich nach Norden verlagert – wenn auch nur bis an die Grenze zwischen der EU und Belarus. Geografisch mag der über weite Strecken waldige Landstrich an der Peripherie der Union liegen, doch was sich hier seit Monaten abspielt, ist längst kein Detail am Rande mehr.

Am Grenzabschnitt zu Polen campieren besonders viele Menschen.
Foto: AFP / Maxim Guchek

Zu Tausenden wurden Migrantinnen und Migranten nach Belarus und weiter an die Westgrenze des Landes gelockt. Manche schlugen sich nach Deutschland durch, doch für die meisten war an den Grenzen zu Lettland, Litauen und Polen Endstation. Nachts sind die Temperaturen inzwischen eisig. Die meisten sind zu leicht bekleidet, viele können weder vor noch zurück, einige sind gestorben. Von etwa zehn Toten war zuletzt die Rede. Wie viele es genau sind, weiß niemand.

Regie führt der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko, als zynische Revanche für die EU-Sanktionen gegen sein Regime. Bereits im Mai hatte er erklärt, Migranten nicht mehr an der Weiterreise in den Westen hindern zu wollen. Die meisten stammen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Gekommen sind sie in der Regel über verstärkte Flugverbindungen nach Minsk, nun drängen sie vornehmlich an die Grenze zu Polen.

Nachdem sich am Donnerstag eine Entspannung der Lage abgezeichnet hatte, kam am Freitag die Ernüchterung: Der polnische Grenzschutz berichtete, dass erneut hunderte Menschen zurück an die Grenze transportiert worden seien, offenbar eskortiert von belarussischen Soldaten. Tags zuvor hatten die belarussischen Behörden Migranten in eine nahegelegene Lagerhalle gebracht. Hoffnung war auch aufgekommen, als am Donnerstag eine Sondermaschine eine große Gruppe von Irakern zurück nach Bagdad geflogen hatte.

Einige Menschen bestiegen in Minsk eine Sondermaschine zur Rückkehr in den Irak.
Foto: AFP / HO / Iraqi Ministry of Transportation

Vieles an der aktuellen Krise wirkt einzigartig: der geografische Fokus; der trügerisch einfache Start der Route per Flugzeug; der Konnex zum Machtwillen eines im Westen geschmähten Autokraten. Doch bei näherem Hinsehen offenbart sich ein Konflikt, der wie ein Brennglas auch Elemente anderer Krisen und humanitärer Katastrophen bündelt.

Einzelschicksale versus geopolitische Rücksichten

Ein Begriff, der zuletzt die migrationspolitischen Debatten geprägt hat, spielt auch in der Belarus-Krise eine zentrale Rolle: der Pull-Faktor. Letztlich manifestiert sich in ihm die Sorge, dass eine völkerrechtlich korrekte Behandlung Asylsuchender auch bei jenen Menschen Hoffnungen auf ein besseres Leben im Westen weckt, die keinen glaubhaften Asylgrund vorbringen können. Umgekehrt sind Pushbacks, die das Stellen von Asylanträgen verhindern, zwar illegal, senden aber das Signal aus, sich besser gar nicht erst auf den möglicherweise gefährlichen Weg zu machen.

Am Ende des Dilemmas steht häufig – wie nun in Polen und im Baltikum – der Plan zum Ausbau von Befestigungsanlagen. "Wenn wir nicht in der Lage sind, jetzt tausende Zuwanderer fernzuhalten, dann werden es bald hunderttausende sein, Millionen, die Richtung Europa kommen", sagte Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki der Bild-Zeitung.

Die humanitäre Notlage an der Grenze hat viel Kritik von Menschenrechtsorganisationen gebracht. Befürworter des harten Grenzregimes hingegen argumentieren damit, dass die Migranten vom "letzten Diktator Europas", dem man keinesfalls nachgeben dürfe, als "lebende Waffen" missbraucht würden.

Tiefe Risse quer durch die Europäische Union

Der Streit um den Umgang mit Migration gilt als Auslöser einer tiefen europäischen Vertrauenskrise. Er erschütterte auch das Verhältnis westlicher EU-Staaten zu Ungarn, das mit seiner rigorosen Asylpolitik bereits 2015 aneckte. Und er passt gut in ein lange gepflegtes Narrativ: In Osteuropa gibt es oft das latente Gefühl, dass man den Westen stets verteidige – und dafür nur Undank ernte.

Überlagert wird dies aktuell noch durch den Konflikt zwischen Brüssel und Warschau um die Unabhängigkeit der Justiz. Die Folge ist gegenseitiges Misstrauen, das die Kooperation an der gemeinsamen EU-Außengrenze behindert. Polen sah sich von Anfang an in der Kritik, weil es sogar die Hilfe der EU-Grenzschutzagentur Frontex ablehnte, die ihren Sitz ausgerechnet in Warschau hat. Ein polnischer Diplomat weist auf Anfrage allerdings darauf hin, dass sein Land mit Frontex sehr wohl in regelmäßigem Austausch stehe. Die Agentur unterstütze Polen mit "Analysen, Satellitenaufnahmen und Grenzmonitoring". Der Grenzschutz selbst aber sei Sache des Staates.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die meisten wollen nach Deutschland.
Foto: Reuters / Kacper Pempel

Geht es nach der in Deutschland lebenden belarussischen Politologin Olga Dryndova, so will Lukaschenko die EU genau an dieser empfindlichen Stelle treffen und spalten: "Migrationspolitik ist ja nicht gerade ein Thema, das die EU-Mitglieder vereint. Eher im Gegenteil."

Verhandeln mit Autokraten als ungewollte Legitimation

Einen ähnlichen Spin hatte zunächst auch die Aufregung über zwei Telefonate, die die deutsche Kanzlerin Angela Merkel diese Woche mit Alexander Lukaschenko geführt hatte. Merkel wollte Möglichkeiten zur Hilfe für die Gestrandeten ausloten, stieß damit in Warschau aber auf Kritik: "Polen wird keine Vereinbarungen anerkennen, die über unsere Köpfe hinweg geschlossen werden", ließ Präsident Andrzej Duda wissen.

Merkels Unterredungen mit Lukaschenko sorgten aber auch aus anderen Gründen für Debatten. Immerhin stellt sich in internationalen Konflikten immer wieder aufs Neue die Frage, mit wem es sich zu verhandeln lohnt und wem man durch bilaterale Kontakte letztlich bloß eine Bühne bietet.

Meist lautet die Antwort, dass das Offenhalten von Gesprächskanälen besser ist als Isolation. Was aber macht man im Fall Lukaschenko? Von der EU wird er nach der umstrittenen Wahl im August 2020 und der anschließenden Niederschlagung der Proteste nicht mehr als Präsident anerkannt. Folgerichtig wurde er in Berlin nur als "Herr Lukaschenko" tituliert. Ziel der Gespräche sei es zudem gewesen, humanitäre Versorgung sicherzustellen und den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, in ihre Heimatländer zurückzukehren, hieß es.

Tatsächlich startete am Donnerstag der erste Sonderflug mit irakischen Migranten Richtung Bagdad. Politologin Dryndova glaubt dennoch, dass der Anschein internationaler Legitimität für Lukaschenko die belarussische Demokratiebewegung demoralisieren könnte: "Auch wenn keine Legitimierung beabsichtigt war: In den belarussischen Staatsmedien wird es auf jeden Fall so dargestellt."

Propaganda, Gegenpropaganda und die Macht der Bilder

Auch dass die über Belarus kommenden Migranten in der EU nicht willkommen sind, wird von Minsker Medien dankbar aufgegriffen. Der belarussische Grenzschutz veröffentlichte Bilder von verletzten Menschen und weinenden, frierenden Kindern. Dass damit Polen und die gesamte EU diskreditiert werden sollen, liegt auf der Hand. Erst recht, wenn man der Welt und den eigenen Bürgern zeigen will, dass der Westen seine vermeintlichen moralischen Standards mit Füßen tritt.

Der Kampf um die Deutungshoheit, unterstützt durch Bildmaterial mit teils ungeklärter Herkunft und großem Emotionspotenzial, ist Bestandteil jeder geopolitischen Krise. Die Besonderheit an der EU-Außengrenze zu Belarus: Polen hat im September über die Grenzregion den Ausnahmezustand verhängt.

In Lettland wird die Grenze zu Belarus streng überwacht, ebenso wie in Litauen und Polen.
Foto: EPA / Latvian Prime Minister Office Handout

Ortsfremde dürfen die Zone nicht betreten, das gilt auch für Journalisten. Ein neues Gesetz soll die Einschränkung der Bewegungs- und Pressefreiheit auch weiter ermöglichen – sehr zum Missfallen von NGOs, die für mehr Transparenz plädieren. Den Ausnahmezustand ausgerufen haben auch Lettland und Litauen.

Zielsichere Sanktionen und eigene Interessen

Wirtschaftssanktionen gegen ein Regime, das seine Bevölkerung drangsaliert oder internationale Regeln verletzt, sind häufig die beste Alternative zum Nichtstun – vorausgesetzt, sie werden nicht klammheimlich wirtschaftlichen Eigeninteressen untergeordnet. Die Einigung auf immer schärfere Sanktionen, wie sie in der EU zuletzt gegen Belarus vorangetrieben wurden, halten das Gespräch über und indirekt sogar mit Minsk am Laufen.

Wenn nun vor allem Personen oder Fluggesellschaften ins Visier genommen werden, die Migranten zwecks Schleusung in die EU nach Belarus bringen, so entspricht das auch dem Grundsatz, dass Sanktionen nicht zulasten der Bevölkerung gehen sollten. Dass man dabei nie ganz trennscharf sein kann, ist die schwere Bürde im Umgang mit Autokraten – und deren Faustpfand im Umgang mit all jenen, die von außen ihre Macht herausfordern. (Gerald Schubert, 20.11.2021)