Bild aus trügerisch entspannten Zeiten: Ende Juni ließ sich der damalige Kanzler Sebastian Kurz als Bezwinger der Pandemie plakatieren. Nur leider hat das Virus nicht mitgespielt.

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Am Abend des 5. September, eines Sonntags, findet im Kanzleramt ein Geheimtreffen statt. Sebastian Kurz, damals noch türkiser Regierungschef, zitiert Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein mit Mitarbeitern zu sich. Der Grüne hatte in der Sonntagsausgabe der Kronen Zeitung neue Covid-Maßnahmen in den Raum gestellt.

Dem Kanzler soll es gereicht haben. In einem stundenlangen Meeting will er den kleinen Koalitionspartner wieder auf Linie bringen, erzählen Leute, die dabei waren: Die Prognosen seien unklar, erklärt Kurz. Verschärfungen kämen jetzt nicht infrage – sie könnten nur Ultima Ratio sein.

Es ist der Tag, an dem sich die Fronten zwischen ÖVP und Grünen endgültig verhärten – noch unbeachtet von der Öffentlichkeit.

Zweieinhalb Monate später haben die Infektionszahlen Rekordhöhe erreicht, viele Spitäler sind bereits überlastet. Und der Kampf um die Krisenbewältigung wird tagelang auf offener Bühne ausgetragen. Der Kanzler heißt Alexander Schallenberg, aber die Fronten sind die gleichen geblieben.

Das Ergebnis des politischen Kampfes: Die Republik geht in den nächsten Lockdown – und damit ist die wirtschaftliche Katastrophe für das tourismusfixierte Land noch gar nicht erschöpft. Die Stornierungswelle für die Wintersaison lasse ihn erschaudern, sagt einer aus der ÖVP: "Es hätte nie so weit kommen dürfen."

Was ist da in den Wochen und Monaten vor dem Desaster geschehen? Was wurde politisch besprochen, entschieden, verabsäumt? Oder knapp formuliert: Wie konnte das alles passieren?

Am 25. Juni präsentiert die ÖVP ihre Sommerkampagne. Auf den Plakaten spricht Sebastian Kurz sichtlich gelöst mit Menschen. Darunter der Slogan: "Die Pandemie gemeistert, die Krise bekämpft" – die Grünen erfahren von dem Spruch aus den Medien.

Explosiver Cocktail

Peter Klimek sieht in den trügerische Sicherheit verbreitenden Plakaten das erste Glied in der Fehlerkette. Damals habe sich längst abgezeichnet, dass die ansteckendere Delta-Variante und sinkende Temperaturen, die Menschen in Innenräume drängen, trotz Impfung "einen explosiven Cocktail" ergeben, sagt das Mitglied des Covid-Prognose-Konsortiums. Frühe Warnungen stammen aus dem Mai. "Unklar war nur, ob der Herbst etwas schlimm, schlimm oder sehr schlimm wird."

Demnach hat Kurz nicht unrecht, dass die Prognosen zumindest im Sommer noch unterschiedlich ausfallen. Mancher Experte schlägt sich auf die optimistische Seite. Als gleich null schätzt die Epidemiologin Eva Schernhammer Mitte August die Gefahr eines neuerlichen Lockdowns ein.

Auf den Spuren des Vorgängers: Neo-Kanzler Schallenberg verabsäumte es, rechtzeitig die Bremse einzulegen,...
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...Gesundheitsminister Mückstein ließ den eigenen Warnungen zu wenige entschlossene Taten folgen.
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Klimek selbst hält Ende Juni einen Sieg Österreichs über Fußball-Großmacht Italien bei der Europameisterschaft für wahrscheinlicher als ein komplettes Herunterfahren. Mitte August prognostiziert er wie sein Kollege Gerald Gartlehner von der Donau-Uni Krems: Eine Überlastung der Intensivstationen – ein entscheidendes Kriterium in der Pandemiebekämpfung – sei eher unwahrscheinlich.

Der Kanzler hat es selbst geahnt

"Da war insofern Wunschdenken dabei", sagt der Forscher vom Complexity Science Hub heute, "als ich davon ausgegangen bin, dass die Politik rechtzeitig etwas tut." Er sei nach wie vor überzeugt, dass die vierte Welle ohne Lockdown zu bewältigen gewesen wäre: "Aber ich habe stets auch gesagt, dass es Maßnahmen braucht – je früher, desto milder können diese ausfallen."

Es lässt sich nicht behaupten, dass die Regierung alle Zeichen übersehen hat. Kurz selbst warnt im Puls-24-Interview im Juli vor herbstlichen Infektionsraten von 7000 bis 10.000 pro Tag, um die Impfbereitschaft anzustacheln. "Die Pandemie ist noch nicht vorbei", mahnt auch Mückstein im Sommer.

Doch die Koalition schreckt vor der naheliegenden Schlussfolgerung zurück, Restriktionen für Ungeimpfte zu verhängen. Das gebe – trotz steigender Infektionszahlen – die epidemiologische Lage nicht her, argumentiert der Gesundheitsminister damals. Außerdem drohe eine Spaltung der Gesellschaft.

Am 31. August verkündet Mückstein, einen "sehr konkreten Plan" für den Herbst zu haben – mehr könne er dazu jedoch noch nicht sagen. Es ist der Beginn einer Strecke missglückter Kommunikation. Selbst bei den Grünen geben manche zu: Mückstein sei mehr Arzt als Politprofi.

Im Hintergrund laufen zu dieser Zeit die Verhandlungen über den Corona-"Stufenplan". Die ÖVP, so wird es vom kleinen Koalitionspartner erzählt, sei "wie immer" auf der Bremse gestanden. Erste Details werden schließlich erst am 6. September bekannt – dem Tag, an dem Kurz sein ORF-Sommergespräch bestreitet. Dass der Kanzler in diesem Interview den Plan skizziert, ist mit den Grünen nicht akkordiert.

Zelte für Impfverweigerer

Es heißt, Kurz habe sich zu dieser Zeit intern auch für ein Ende der kostenlosen Covid-Testungen ausgesprochen, um den Druck auf Ungeimpfte zu erhöhen. Dem Vorhaben macht der schwarze Landeshauptmann Thomas Stelzer einen Strich durch die Rechnung.

Er bekennt sich im Oberösterreich-Wahlkampf zu flächendeckenden Gratis-Tests – danach war die Causa für die ÖVP vom Tisch. Später habe Kurz noch einen anderen Vorschlag zur Verunsicherung Ungeimpfter aufgebracht: Man könne vor Spitälern Zelte aufstellen, in die alle erkrankten Impfverweigerer müssten. Die Idee wird schnell verworfen.

Zwei Tage nach dem Sommergespräch von Kurz wird der gesamte Stufenplan für den Herbst präsentiert. Dieser stößt sofort auf Einspruch aus der Fachwelt: Nicht nur müsse das Konzept rascher strengere Regeln vorsehen, es baue auch auf einem falschen Konstrukt auf.

Die verschiedenen Restriktionen – etwa der Ausschluss Ungeimpfter vom Nachtleben – sollen je nach erreichter Auslastung der Intensivstationen in Kraft treten. Damit hinke die Politik heillos hinterher, so die Kritik. Sie wird sich bewahrheiten. Denn die Lage in den Spitäler spiegelt das Infektionsgeschehen von vor zwei bis drei Wochen wider.

Entscheidender Fehler

Als entscheidenden Fehler sieht der Mikrobiologe Michael Wagner dieses "unsinnige" Prinzip im Stufenplan: "Das ist wie ein Hurrikane-Warnsystem, das erst zur Evakuierung aufruft, wenn bereits das Dach weggeflogen ist."

Er sei die Warnungen allmählich leid, sagt Wagner, "ich fühle mich wie ein Sprechautomat". Am laufenden Band hätten regierende Politiker Erkenntnisse der Wissenschaft und Erfahrungen aus der Pandemie beiseite gewischt. Aus Israel wisse man längst, wie stark die Impfwirkung nachlässt, trotzdem habe Österreich nicht ähnlich entschlossen mit dem Boosten vulnerabler Gruppen begonnen, kritisiert er.

Die düsteren Tage kehren wieder: Zum vierten Mal seit Beginn der Pandemie schlittert Österreich in einen Lockdown. Dabei waren die Warnungen vor der herbstlichen Corona-Welle deutlich. Die Regierung sei sehenden Auges in die Misere gefahren, kritisieren Fachleute.
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Ebenso hätten sich die hohen Ansteckungsraten an den Schulen eindämmen lassen, ist Wagner überzeugt: Etwa indem infektiöse Schülerinnen und Schüler – wie vielfach seit Frühling empfohlen – frühzeitig mit dreimaligen PCR-Tests pro Woche herausgefischt worden wären. Fazit: "Die Politik ist sehenden Auges in die Misere hineingefahren."

Glasklare Warnung

Tatsächlich liegt Anfang September eine Warnung vor, an der es nichts mehr zum Herumdeuteln gibt. Um eine "systemgefährdende" vierte Welle zu verhindern, rechnete das offizielle Covid-Prognose-Konsortium vor, müsse die Durchimpfungsrate rasch auf 70 Prozent der Gesamtbevölkerung steigen. Und selbst dann seien verstärkte Schutzmaßnahmen nötig. De facto liegt die Impfquote zu dem Zeitpunkt bei 58,3 Prozent. Das Unheil ist spätestens ab dann absehbar.

Am 15. September wird auch ein Papier aus dem Gesundheitsministerium publik, in dem von einem "sehr besorgniserregenden Szenarium" die Rede ist. Es brauche schärfere Maßnahmen – etwa den Zutritt zur Nachtgastronomie nur für Geimpfte. Umgesetzt werden die Vorschläge nicht.

Heute betonen die Grünen gerne: Auch sie hätten den Stufenplan an Prognosen und nicht erst an die Zahl der belegten Intensivbetten koppeln wollen. Für eine Ausweitung der FFP2-Masken-Pflicht habe die Öko-Partei wochenlang gekämpft. Doch mit der ÖVP sei lange nichts zu machen gewesen.

In der Kanzlerpartei ist naturgemäß Gegenteiliges zu vernehmen – etwa dass Mückstein die Auffrischungsimpfungen verbremst habe.

Lähmende Dynamik

Einiges lässt sich wohl aus der Dynamik der Ereignisse im Frühherbst, als die Regierung noch das Steuer herumreißen hätte können, erklären. Erst dämpft die oberösterreichische Landtagswahl die Lust, impfunwillige Bürger mit Verschärfungen zu vergrätzen, dann legt die Krise um den erzwungenen Abgang von Kanzler Kurz die Regierungsarbeit lahm.

Bereits am 3. September wird er wegen des Verdachts auf Falschaussage im U-Ausschuss einvernommen. Manche im Umfeld der Regierung munkeln: Ab diesem Zeitpunkt ist die ÖVP vor allem mit sich selbst beschäftigt. Weitere Ermittlungsschritte sind längst mehr als bloß ein vages Gerücht.

Unterlegt wird all das von einer trügerischen Stagnation der Infektionszahlen Ende September und Anfang Oktober. Die Atempause lässt die Prognosen der Experten übertrieben erscheinen und nährt die Hoffnung, dass sich alles doch noch irgendwie ausgeht.

Problematische Zusammenarbeit

Im Dunkeln bleibt als Faktor die Lobbyarbeit von Interessensgruppen, die sich gegen Corona-Einschränkungen stemmen – und die Frage, welche Einflüsterer für die Regierungspolitiker letztlich den Ausschlag geben. Viel zu undurchsichtig laufe Politikberatung hierzulande ab, bemängelt Wagner. Er plädiert für ein unabhängiges Expertengremium, das für jedermann nachvollziehbar die wissenschaftliche Evidenz ausbreitet.

Ein weiteres Problem ist zweifellos die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Die Regierung sei daran völlig gescheitert – das hört man zumindest, wenn man sich in den roten Bastionen erkundigt. Über den Sommer habe es mit Kanzler Kurz kaum bis gar keinen Kontakt gegeben. Mückstein sei greifbarer, dafür regierungsintern nicht durchsetzungsfähig.

Und gleich zu Beginn des Jahres habe die Bundesregierung den Fehler gemacht, das Impfen allein den Ländern zu überlassen. "Es gibt neun Herangehensweisen und keine Strategie", sagt ein Roter. Hinzu kommt, dass nie eine zentral organisierte Impfkampagne mit konkreten Maßnahmen organisiert wird. Ungeimpfte haben bis heute keinen Brief mit einem Terminvorschlag für einen Erststich bekommen; das hat in anderen Ländern wie Spanien viele zur Impfung motiviert.

Fern jeder Evidenz

In der rot-pink geführten Hauptstadt macht man aber vor allem einen Übeltäter aus: Das größte Problem sei die Losung des Kanzlers gewesen, dass die Pandemie zumindest für Geimpfte vorbei sei. "Und dann wurde alles getan, damit sein zentrales Versprechen hält – fern jeder Evidenz", sagt ein Sozialdemokrat aus dem Wiener Rathaus. Nun ist Kurz’ Verheißung endgültig passé.

Wie klar die Regierung danebenlag, zeigt sich an einem Detail. Wäre es nach dem eigentlichen Corona-Stufenplan gegangen, gäbe es in Österreich bei der jetzigen Auslastung der Intensivstationen lediglich Einschränkungen für Ungeimpfte – und das nur im Freizeitbereich. Aus heutiger Sicht sehr fern der Realität. (Gerald John, Katharina Mittelstaedt, 20.11.2021)