Auf der Höhe der Mode ihrer Zeit: Élisabeth "Zaza" Lacoin (li.) und Simone de Beauvoir 1928.

Foto: Copyright Association Élisabeth Lacoin / L'Herne

Als die neunjährige Sylvie 1917 ins neue Schuljahr startet, sitzt an ihrem Tisch ein Mädchen, das sie noch nicht kennt. "Sind Sie die beste Schülerin? (...) Würden Sie mir Ihre Hefte vom letzten Jahr ausborgen?", wird sie von Andrée ohne Umschweife gefragt und ist von ihrer Selbstsicherheit sofort fasziniert. Andrée, die fabelhafte Aufsätze schreibt, prima turnt, zugleich aber den Lehrerinnen auch einmal frech antwortet, wird schnell das einzige andere Kind, das Sylvie nicht langweilt. Die Unzertrennlichen heißt das aus Simone de Beauvoirs Nachlass nun erschienene Büchlein, das von dieser Begegnung erzählt, aus der sich nicht bloß eine tiefe Freundschaft entwickelt, sondern eine fiebrige lesbische Jugendliebe.

Wiederholt aufgegriffen

Warum die für Aufsehen sorgt? Die Geschichte ist stark autobiografisch. De Beauvoir selbst ist Sylvie, Andrée steht für ihre Schulfreundin Élisabeth "Zaza" Lacoin. Neben den Namen hat die Autorin nur hier eine Zahl der Geschwister und dort den Namen einer Schule geändert. Die Philosophin hat das Manuskript 1954 geschrieben, aber nie veröffentlicht. Die einen meinen, Jean-Paul Sartre habe von einer Veröffentlichung abgeraten, weil er das Dargelegte zu persönlich gefunden habe. Immerhin war de Beauvoir gerade für Die Mandarins von Paris mit dem Prix Goncourt geehrt worden.

Das Vorwort der 140 Seiten klärt hingegen auf, de Beauvoir sei mit dem Text unzufrieden gewesen. Das scheint plausibel, tatsächlich hat sie den Stoff wiederholt aufgegriffen: 20 Jahre zuvor im Erzählband Marcelle, Chantal, Lisa ... oder 1958 in den Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, Teil eins ihrer Autobiografie.

Insofern merken nun viele Stimmen an, man erfahre in Die Unzertrennlichen nichts wesentlich Neues. Das tut der Geschichte, die darin erzählt wird, aber keinen Abbruch. Eine lesbische Lovestory ist diese allerdings nur in zweiter Linie. Ja, Sylvie schmachtet in den Sommerferien, die sie ohne Andrée zubringen muss ("Ich begriff plötzlich, voller Staunen und Freude, dass die Leere in meinem Herzen, die Trostlosigkeit meiner Tage nur einen Grund gehabt hatten"), und bekennt unter dem Einfluss von Weinbrandkirschen mit 15 Jahren mutig: "Ich hatte Lust, Andrée diese Dinge zu sagen, die man nur in Büchern sagt."

Keine körperliche Nähe

Was sie dann auch tut. Zum erwiderten Flirt wird das Schwärmen trotzdem nicht. Wer im Verlauf des Buchs körperliche Nähe erwartet, wartet vergebens und wird genauso enttäuscht wie Sylvie. Die Freundinnen bleiben beim "Sie" als Anrede. Dazu passend gerät der Text nie aus der nüchternen Form und in einen Gefühlstaumel, ist stets Reflexion.

Viel fruchtbarer ist Die Unzertrennlichen als Entwicklungsroman. Denn Sylvie empfindet die frei nach dem Motto "Mama verbietet es mir; aber wenn man erst einmal angefangen hat, Verbote zu missachten ..." rauchende Andrée lange als viel freier als sich selbst. Doch je älter die beiden werden, umso enger wird das Korsett der großbürgerlichen (die Mutter soll sogar adelig sein), streng katholischen Familie (der Vater!), aus der Andrée stammt.

Äußerlich modisch, ist sie innerlich gefangen. In einem Sommer hackt sie sich gar in den Fuß, um gesellschaftlichen Verpflichtungen zu entgehen. Das Unglück gipfelt darin, dass ihr aus Standesgründen zweimal die Ehe aus Liebe versagt wird – u. a. mit Maurice Merleau-Ponty.

Unglück und Blüte

Im Buch fast nebensächlich blüht Sylvie derweil auf. Weil ihre Familie im Ersten Weltkrieg an Wohlstand eingebüßt hat, ist früh klar, dass sie nach dem Studium wird arbeiten müssen. "Sie können zu etwas dienen, ohne zu heiraten", beneidet Andrée Sylvie hilflos um ihre Freiheit.

Herausgegeben wurde der Band von Sylvie Le Bon de Beauvoir. Nach Sartres Tod hatte die Philosophin die 30 Jahre jüngere Geliebte und Wegbegleiterin adoptiert, um ihr die Rechte am Werk zu sichern.

Ihre lesbische Veranlagung hat de Beauvoir zeitlebens (1908–1986) nicht eingeräumt. Als feministische Galionsfigur (u. a. Das andere Geschlecht) sezierte sie aber soziale Verhältnisse und patriarchale Konstrukte. Zazas Unglück blieb für sie dabei, wie sie in Texten eingeräumt hat, eine Initialzündung: Obwohl Zaza/Andrée 1929 (im selben Jahr lernte de Beauvoir Sartre kennen) an einer Gehirnentzündung stirbt, ist sie für de Beauvoir / Sylvie an der Gesellschaft zugrunde gegangen. (Michael Wurmitzer, 22.11.2021)