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Zum vierten Mal werden große Teile Österreichs in einen Lockdown geschickt. Das bedeutet nicht bloß, dass nun vorgegeben ist, aus welchen Gründen das eigene Haus verlassen werden kann. Zahlreiche Unternehmen, etwa Hotels, Wirtshäuser, Fitnesscenter und Kinos, dürfen nicht für Kunden aufsperren. Größere Familientreffen sind nicht erlaubt. "Damit sind nahezu alle Grundrechte von Einschränkungen betroffen", sagt Peter Bußjäger, Verfassungs- und Verwaltungsjurist an der Universität Innsbruck. Darunter fallen: das Recht auf Privatleben, das Recht auf Erwerbsfreiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Vereins- und Versammlungsfreiheit, das Recht auf Freizügigkeit.

Wie bei allen Grundrechten gilt, dass sie nie absolut gelten und Einschränkungen immer dann erlaubt sind, wenn damit andere Rechte geschützt werden und solange die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. So wird der Lockdown nicht aus Jux und Tollerei verkündet, sondern um die medizinische Versorgung der Bevölkerung aufrechterhalten zu können: Geschützt wird also nichts Geringeres als das Recht auf Leben.

Doch im Detail stellen sich juristisch schon seit dem ersten Lockdown komplexe Abwägungsfragen. Dieses Mal ist die Abwägung sogar noch schwieriger. Das hat mit einer immer größer werdenden Gruppe zu tun: den Geboosteten, also jenen Menschen, die bereits dreifach gegen Corona geimpft worden sind.

Guter Schutz

Die dritte Impfung, so viel sei inzwischen vor allem aus israelischen Studien klar, habe einen "sehr starken Effekt", sagt der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS). Eine Ende Oktober im Lancet von israelischen Wissenschaftern veröffentlichte Studie untersuchte, wie sich Corona-Infektionen bei einer Gruppe mit 700.000 Menschen entwickelte, die zweifach geimpft waren, und bei einer demografisch ähnlichen Gruppe mit etwa 700.000 Menschen, denen schon drei Impfungen verabreicht worden waren.

Die dritte Impfung schützt Dreifachgeimpfte in 92 Prozent der Fälle vor einer Hospitalisierung im Verhältnis zur Vergleichsgruppe. 231 Menschen, die zweifach geimpft waren, kamen laut Studie ins Spital, aber bloß 29 Menschen nach einer Dreifachimpfung. Und: Auch der Schutz vor einer Infektion mit milden Symptomen oder ohne Symptome beträgt fast 90 Prozent.

Wer dreifach geimpft ist, erkrankt mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit nicht schwer und wird auch mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit nicht infektiös, sagt Thomas Czypionka. Wer nicht infektiös wird, kann auch niemanden anstecken. Offen ist noch, wie lange dieser Schutz der Drittimpfung anhält. Hier bleiben Unsicherheiten.

Die israelische Studie deckt einen Zeitraum von etwa zwei Monaten ab. Für jene Menschen, die in Österreich in den vergangenen Tagen und Wochen zum dritten Mal geimpft wurden, dürfte dieser gute Schutz jedenfalls gegeben sein, so Czypionka. Mit den Booster-Impfungen wurde im großen Stil nämlich im September gestartet.

Nicht mehr behelligen?

Wenn nun aber Menschen mit drei Impfungen nicht nur selbst so gut wie nicht gefährdet sind, sondern auch andere ganz selten anstecken: Lässt sich dann noch ein Lockdown für sie rechtfertigen?

"Das ist ein rechtliches Problem", sagt der Verfassungsjurist Bußjäger. "Die einzige Rechtfertigung, die mir einfällt, wäre zu sagen, dass die Gruppe der Geboosteten noch relativ klein ist und ein rechtliches Sonderregime für sie keinen Sinn macht, man kann es mit Fragen der Verwaltungsvollziehung versuchen zu rechtfertigen." Nachsatz: "Wenn die Gefahr bei dieser Gruppe klein ist, haben sie ein Recht darauf, nicht mehr mit Beschränkungen behelligt zu werden." Fazit des Juristen: Aktuell sei ein Lockdown noch argumentierbar, aber schon in wenigen Wochen, wenn es immer mehr Drittgeimpfte gibt, nicht mehr.

Hier widerspricht der Verfassungsrechtler Heinz Mayer. Inzwischen gibt es mehr als eine Million Menschen in Österreich mit einer Drittimpfung. "Das ist keine kleine Gruppe", so Mayer. Die einzig relevante Frage sei, ob Drittgeimpfte tatsächlich selbst nicht erkranken und das Virus nicht weitergeben. Auch mangelnde Kontrollierbarkeit sei kein Argument für einen Lockdown bei ihnen: "Es ließe sich ja kontrollieren, zumindest stichprobenartig."

Beschwerde beim Höchstgericht

Rechtliche Abhilfe zu bekommen wäre für Geboostete möglich, sie könnten sich mit einem Individualantrag an den Verfassungsgerichtshof (VfGH) wenden. Dafür müssen sie nicht einmal eine Strafe kassiert haben, so Bußjäger. Der VfGH hat bereits mehrere einschränkende Maßnahmen aufgehoben. So stellt er fest, dass das Betretungsverbot für öffentliche Orte im ersten Lockdown rechtswidrig war, weil das Verbot nicht durch das Covid-19-Maßnahmengesetz gedeckt war.

Oder: Nach dem Ende des Lockdowns wurde bei der Öffnung nach der Größe von Geschäften unterschieden. Auch das war rechtswidrig. Der Gesundheitsminister hätte nachvollziehbar machen müssen, auf Basis welcher Infos er diese Regel konzipierte.

Hier zeigt sich, dass einschränkende Maßnahmen nicht unbedingt deshalb aufgehoben werden, weil Grundrechte beschränkt sind. Es reicht, wenn es eine ungenügende Begründung gibt. Wo sich diese Begründung findet? Für die Öffentlichkeit sind diese Dokumente nicht einsehbar, sagt Jurist Bußjäger. Sie werden mit der Lockdown-Verordnung ausgearbeitet und befinden sich im Akt. Hier wäre Transparenz geboten, so Bußjäger.

Sollte der VfGH aktuelle Regelungen aufheben, käme das für den aktuellen Lockdown nicht mehr rechtzeitig, sondern allenfalls für weitere. Die Gruppe der Geboosteten wächst jedenfalls täglich. (András Szigetvari, 22.11.2021)