Es knirscht ein wenig wie Schritte auf Kies, als Yochai Mevorach die Schere an meinem dicksten Zopf ansetzt und zudrückt. Er muss das Haarbündel mehrmals anschneiden, sonst ist da kein Durchkommen. Sekunden später ist mein letztes Stück Langhaar ab, mein Kopf ist gefühlte drei Kilo leichter, und ich bin glücklich: Das Pandemie-Haar ist endlich weg.

Yochai Mevorach ist mit Spaß bei der Sache. Vor allem wenn er lange Haare für den Verein Haarfee abschneiden darf.
Foto: Corn

Wie viele habe ich mein Haar im ersten Lockdown gezwungenermaßen wachsen lassen – die Friseure waren geschlossen. Im Gegensatz zu vielen habe ich danach weitergemacht. Ich wollte nämlich schon immer lange Haare haben, es zumindest mal ausprobieren. Rund 20 Monate habe ich sie wachsen, kein einziges Mal nachschneiden lassen. Als sie mir ab Schulterlänge zu mühsam in der Pflege wurden und ich sie beinahe in einem Anfall von Rage vor dem heimischen Badezimmerspiegel abrasieren wollte, kam mir die Idee, dass ich mit all dem Haar ja vielleicht auch was Sinnvolles anstellen könnte.

Mein Wuschel für Kinder

Und hier kommt Yochai Mevorach ins Spiel. Er ist nicht nur Chef des Friseursalons Folgeeins im siebten Bezirk, sondern auch das Herz des Vereins Haarfee. Der sammelt Haarspenden, lässt daraus Perücken machen und gibt sie dann an kranke Kinder weiter, die ihr Haar verloren haben und deren Familien sich keine Echthaarperücken leisten können.

"Normalerweise kriege ich aus einer Frisur vier Zöpfe", sagt Mevorach, als er meine Haare inspiziert. "Bei dir machen wir acht." Ich hätte die dicksten Haare der Welt, habe ich öfters von Freundinnen gehört. In den letzten Wochen und Monaten habe ich darauf nur genervt geantwortet: "Ich weiß." Lassen Sie mich nämlich eines klarstellen: Diese Haare sind ein Haufen Arbeit.

Vorher...
Foto: Corn
...nachher
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"Eine Echthaarperücke kann für die Familien bis zu 3000 Euro kosten", sagt Mevorach, während er meine Haare zu Zöpfen bindet. "Das ist für die wenigsten Familien so einfach bezahlbar." Seine jungen Kundinnen und Kunden sind oft Kinder aus dem St. Anna Kinderspital in Wien. Kinder, die ihre Haare wegen einer Chemotherapie verlieren, wegen Verbrennungen oder wegen der Autoimmun-Krankheit Alopecia areata.

"Wenn ein Kind beispielsweise eine Chemo braucht, ruft das Krankenhaus mich vorher an. Dann komme ich mit passenden Perücken vorbei, und wir probieren sie gemeinsam mit der Familie aus", sagt Mevorach. Wichtig sei es, dass die Kinder die Perücken vor dem Haarausfall bekämen – damit der Schritt und die Angst nicht zu groß sind.

Ob man erkennt, dass ich lange nicht beim Friseur war?
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"Kindern ist das Äußere in jeder Altersphase wichtig – und eine Perücke, ein tolles Tuch, eine bunte Mütze oder ein cooler Hut können sehr zum Wohlbefinden beitragen", sagt Barbara Hahn, Pflegedirektorin im St. Anna Kinderspital. "Wir sehen immer wieder auch Kinder, die ihre Kopfbedeckung nicht ablegen möchten – sie ist ein Schutz und hilft vor allem im Winter, dass der Wärmeverlust über die Kopfhaut gemildert wird."

200 Stunden, 100.000 Haare

Damit das für jedes Kind angeboten werden kann, ist der Verein auf Spenden angewiesen, in erster Linie eben in Form von Haar. Allerdings gibt es einige Bedingungen zu erfüllen. Der Zopf sollte mindestens 40 Zentimeter lang sein. Das Haar darf nicht gefärbt, gebleicht oder anderweitig beschädigt sein. Erfüllt man diese Kriterien, kann man entweder zum Folgeeins-Salon kommen, in einem der Partnerlokale einen Termin machen oder die Haare selbst zu Zöpfen binden, abschneiden und nach Wien schicken.

Von hier aus geht die gelöste Haarpracht nach Länge und Farbe sortiert zum Perückenmacher Rieswick & Partner nach Deutschland. Eine Echthaarperücke herzustellen dauert knapp 200 Stunden, sagt Perückenmacher Max Rieswick in einem Erklärvideo auf Youtube, das Kundinnen und Kunden ein besseres Verständnis für das Produkt geben soll.

Für diese Zöpfe geht es jetzt ab nach Deutschland.
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Die Basis für jede Perücke ist die Montur, eine Art Badekappe mit kleinen Löchern dar in. In jedes dieser Löcher werden maximal (!) zwei Haare mit einer Knüpfnadel geknotet. "Je weniger Haare man pro Masche nimmt, desto feiner sieht die Perücke nachher aus", sagt Rieswick. Am Ende hängen von der Montur rund 100.000 einzeln geknüpfte Haare von bis zu fünf Spenderinnen und Spendern.

Die Idee für den Verein kam Mevorach durch eine Kundin in Amsterdam. Sie erzählte bei einem Termin, ihre Freundin sei an Krebs erkrankt und würde ihre Haare verlieren. "Da hat sie vorgeschlagen, ihre eigenen abschneiden zu lassen und daraus eine Perücke für sie zu machen." Eine Woche später sei dann in Wien ein junges Mädchen mit hüftlangen Haaren im Salon gewesen. Mevorach fragte, ob er ihre abgeschnittenen Haare behalten und zur Perücke weiterverarbeiten könne. Es war der erste Abschnitt für den 2014 gegründeten Verein.

Ein paar Jahre jünger

Wer sich die Haare nicht wachsen lassen will, der kann den Verein auch finanziell unterstützen. "Die Anfertigung einer Perücke kostet rund 500 Euro", sagt Mevorach. Die Familien können bei der Krankenkasse einen Zuschuss beantragen, der deckt die Kosten aber nur zum Teil ab. Den Rest übernimmt der Verein. Im Mai 2021 überreichte Mevorach die 250. Perücke in der Geschichte der Haarfee.

Als Mevorach fertig ist, sehe ich aus wie ein neuer Mensch. Doch als ich vor die Türe trete, pfeift mir die kalte Luft um die nun plötzlich wieder freiliegenden Ohren. Ungewohnt! Auf dem Weg nach Hause erhasche ich aus der U6 einen kurzen Blick auf das St. Anna Kinderspital. Hier werden meine Haare in ein paar Monaten eine neue Aufgabe bekommen.

Und nun, ein paar Tage später, denke ich mir, dass es vielleicht keine gute Idee war, mir die Haare so kurz vor dem vierten Lockdown abzusäbeln. Obwohl: Eigentlich könnte ich ja jetzt wieder von vorne anfangen. (Thorben Pollerhof, 22.11.2021)