Der russische Präsident Wladimir Putin schrieb Mitte Juli einen langen Aufsatz samt zusätzlichen Ausführungen Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer mit scharfen Angriffen gegen die durch den Westen gesteuerte ukrainische Führung. Diese betreibe Russophobie und eine Zwangsukrainisierung der russischsprachigen Bevölkerung in Donbass. Die Andeutung, Russland werde nur eine freundlich gesinnte Ukraine in ihren heutigen Grenzen akzeptieren, wurde damals von manchen Experten wie eine Kriegsdrohung interpretiert.

Die auffallenden russischen Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze und die öffentlichen Warnungen Putins in den letzten Wochen vor der "militärischen Expansion" der Nato und vor "provokanten" Manövern im Schwarzen Meer als "eine Gefahr" für Russland bestätigen die düsteren Wertungen. Inzwischen hat der US-Außenminister Antony Blinken (am 10. November) seine Beunruhigung ausgedrückt. Russland könne "einen ernsten Fehler machen" und versuchen, das zu wiederholen, was es 2014 getan hat, als es Truppen an der Grenze zusammenzog und in souveränes ukrainisches Gebiet eindrang".

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Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin sind Russen und Ukrainer ein Volk.
Foto: AP Photo/Alexander Zemlianichenko

Der Hauptgrund für die Spannungen waren und sind die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine, bei dem Russland die Separatisten unterstützt. In der Ostukraine besteht seit dem Minsker Abkommen (Februar 2015) eine Waffenruhe, gegen die aber immer wieder verstoßen wird. Bei den Kämpfen zwischen ukrainischen Sicherheitskräften und prorussischen Separatisten wurden bisher rund 14.000 Menschen getötet.

Politische Spaltung der Gesellschaft

Zum Hintergrund der wachsenden Sorge über Putins Absichten gehören die Spannungen zwischen dem vom Kreml unterstützten belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko und der EU wegen dessen Provokationen durch verzweifelte Migranten an den Grenzen mit Polen und Litauen, die Angst vor russischen Druckversuchen mit Erdgaslieferungen infolge einer winterlichen Energieknappheit und die Stärkung der Position Putins. Die Steigerung der Ölpreise, die Erhöhung der bereits 620 Milliarden Dollar starken Hartwährungsreserven, die Zerschlagung der von dem eingesperrten Alexei Nawalny geführten Opposition, die Steigerung seiner Beliebtheitsquote auf 60 Prozent in unabhängigen Meinungsumfragen, die strategische Partnerschaft mit China, die Modernisierung der Rüstung der russischen Streitkräfte und die Schwächung der USA durch die politische Spaltung der Gesellschaft sind die Faktoren, die laut den führenden US-amerikanischen Russland-Experten den machtvollen selbstbewussten Auftritt des russischen Präsidenten prägen.

Will Russland durch besorgniserregende Militäraktivitäten "nur" die ukrainische Führung einschüchtern, die Annäherung an den Westen verhindern und den russischen Einfluss in der ostukrainischen Donbass-Region stärken? Oder bereitet Putin sogar die schrittweise "Heimholung" der Ukraine vor durch einen direkten militärischen Vorstoß, um eine Landverbindung zur Krim zu sichern? Für Putin sind Russen und Ukrainer ein Volk. Die Nostalgie des 69-jährigen Herrschers nach der versunkenen Sowjetunion war die Triebkraft für die vor sieben Jahren von keinem Russland-Experten vorhergesehene Eroberung der Krim. (Paul Lendvai, 23.11.2021)