Ja, eh: Strava, Garmin Connect und Co zu "lesen" ist jetzt nicht unbedingt die allergrößte Geheimwissenschaft. Und so war es auch nicht weiter überraschend, dass Sonntagabend ein paar fragende Botschaften eintrudelten, in denen gefragt wurde, welche Langdistanz denn da in den kommenden Tagen wohl bei mir auf dem Plan stehe.

Weil: Wenn da an zwei Sonntagen hintereinander hügelige Über-30-Kilometer-Läufe auf den diversen Plattformen aufpoppen und am Wochenende drauf Umfänge und Intensität ganz eindeutig runtergehen, ist das ja wohl "Tapern".

Und so ziemlich jeder, der dieses "Anspitzen" schon einmal auf dem Trainingsplan hatte, weiß: "Getapert" wird vor einem großen Lauf. Nur: Was steht da an "Großem" dieser Tage im Rennkalender? Noch dazu jetzt – im Lockdown?

Foto: thomas rottenberg

Was jetzt kommt, ist deshalb vielleicht ein bisserl fies. Denn wenn Sie diese Geschichte lesen, bin ich – wenn nicht doch noch was dazwischenkommt – schon anderswo oder auf dem Weg dorthin. Anderswo liegt in Israel: Eilat. Dort gibt es ziemlich viel Wüste – und mit der habe ich eine Rechnung offen: Vor zwei Jahren war ich weder fit noch mutig genug, mir beim Eilat Desert Marathon mehr als die Halbdistanz zuzutrauen. Das habe ich schon am Tag danach bereut.

Doch weil Träume dazu da sind, sie wahr zu machen, werde ich versuchen, dieses Versäumnis am Freitag aus der Welt zu schaffen.

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Falls es Sie interessiert: Nein, ich habe kein schlechtes Gewissen, Österreichs elenden Polit-Verwesern und all den Schwurblern und Privatgelehrten für ein paar Tage zu entfliehen.

Dass das just zu Lockdown-Beginn passiert, war aber natürlich nicht geplant: Den zu vermeiden hätte die Politik ja seit den ersten Warnungen im Sommer in der Hand gehabt …

Aber ich schweife ab, gejammert wird ohnehin viel zu viel.

Und auch wenn es durchaus nachvollziehbar ist, mit der Gesamtsituation mehr als unzufrieden zu sein, ist gerade Laufen – oder jede Bewegung an der frischen Luft – ein probates Antidot gegen Verzweiflung und Depression.

Nein, nicht nur unter der Sonne des Südens, sondern auch und gerade jetzt und hier: in der Dunkelheit der Stadt.

Foto: thomas rottenberg

Denn Laufen hat und kann da durchaus was. Nicht zuletzt, weil sich sogar die tausendmal abgetrabten "beaten tracks" im Dunkeln (und bei windiger Kälte) plötzlich ganz anders anfühlen.

Probieren Sie es am besten selbst aus – gerade im urbanen Umfeld gibt es da eine Million Abstufungen und Möglichkeiten, sich läuferisch ein bisserl einen Kick zu geben, indem man (oder eben frau) sich aus der Komfortzone "Asphalt und gut ausgeleuchtet" wegbewegt: Die Hauptallee im Prater ist ja an sich schon selten wirklich aufregend – im Halbdunkel und gegen den Wind ist Laufen dort aber einfach unlustig.

Erstaunlicherweise aber jammert keiner und keine, wenn er oder sie die Dämmerung statt am "Strip" am Donauufer erlebt: Der Vollmond über der Donau wiegt mehr als jeder Gegenwind – nicht erst um Mitternacht: Solche Bilder kann man schon gegen 18 Uhr machen.

Foto: thomas rottenberg

Falls Sie mein Faible für die Friedenspagode am rechten Donauufer kennen, wird es Sie nicht wundern, dass ich dort nicht nur Sonnenaufgänge liebe, sondern auch das Bild, das der angestrahlte Stupa da gegen den Nachthimmel abgibt.

Wie oft ich in den letzten Jahren hier vorbeigelaufen oder -geradelt bin, kann ich beim besten Willen nicht sagen, doch das Nachtsetting der ersten Vollmondnacht der vergangenen Woche war auch für mich ein absolutes "First".

Aber es war sicher nicht das letzte Mal: Schönes wird schöner, wenn man es teilt – das ist durchaus eigennützig. Denn das Staunen derer, die ich an solche Orte bringe, hält auch für mich dieses Boris-Vian-Herzausreißergefühl des ersten Anblicks länger lebendig.

Foto: thomas rottenberg

Wobei gerade die Läufe bei "schwarzer Luft" auch alleine einen besonderen Reiz haben. Nicht weil ich mir so den Lockdown und die Reduktion der sozialen Kontakte schönrede. Auch nicht, weil ich dann keine Ausreden habe, irgendwelche Intervall- oder Tempowechselprogramme eventuell doch nicht ganz so genau durchzuziehen.

Sondern weil ein Solo – zumindest bei mir – emotional anders funktioniert als ein Lauf zu zweit. Oder gar als Guide einer Gruppe. Alleine nehmen meine Augen anders wahr. Die Bilder werden da zuerst im Herzen und erst dann im Hirn verarbeitet.

Foto: thomas rottenberg

Der Kopf hätte zu jedem dieser Motive im Dunkeln tausend schlaue, vernünftige und oft auch kritische Dinge zu sagen. Das Herz nur eines: So fühlt sich Heimat an. Das ist Zuhause. Egal wie sehr das Drumherum bei Tageslicht, der Begleitlärm des Alltags, nerven kann. Wurscht, wie oft ich diese Stadt sonst verwünsche.

In solchen Momenten zählt nur das Hier und Jetzt – aber eben auch die Art und Weise, wie ich mir diese Blicke erarbeitet habe: laufend.

Auch weil in solchen Augenblicken die Frage, ob es da um den Weg oder das Ziel geht, obsolet wird. Und das Fluchen über das "zache" Intervalltraining, während alle anderen den letzten Pre-Lockdown-Abend am Weihnachtsmarkt beim Punschtrinken verbringen, zum Lächeln wird: Punsch bekommt man für Geld – solche Momente nicht.

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Bei aller verblendeten Stadtverliebtheit erzählen Laufbilder aus der Dunkelheit aber auch eine echte Positivgeschichte. Die von der sicheren Stadt nämlich.

Als Mann kann ich das latente Unsicherheitsgefühl vieler Frauen auf dunklen und einsamen Wegen nicht wirklich nachempfinden. Ich kann nur hoffen, dass mein Verhalten nicht dazu beiträgt, Ängste oder Fluchtreflexe auszulösen oder zu verstärken.

(Nicht knapp auflaufen oder überholen hilft. Auch ein an sich unnötiges "Ich komme links/rechts von dir" kann da zumindest das Erschrecken verringern.)

Was ich aber sehr wohl wahrnehme, ist, dass mir auch an weit weniger gut beleuchteten Stellen der Stadt sogar zu wirklich nachtschlafener Stunde Frauen begegnen, die alleine laufen. Das ist nicht selbstverständlich – und stellt der Stadt per se ein gutes, sicheres Zeugnis aus.

Foto: thomas rottenberg

Klar: Pech kann man – ja, auch Männer – immer haben. Und dass die größte Gefahr in der Regel nicht im Park von Fremden sondern daheim von "Freunden der Familie" ausgeht, wissen wir auch.

Nur ändert das halt nichts daran, wie sicher oder bedrohlich der öffentliche Raum wahrgenommen wird – und ob man oder frau ihn auch im Dunkeln ohne zweimal nachzudenken als Frei- und Bewegungsraum zu nutzen wagt.

Oder sogar so weit geht, nicht einfach im Dunkeln zu laufen, weil es sich in dieser Jahreszeit bei Tageslicht einfach nicht ausgeht, sondern gerade die Dunkelheit, das "Laufen bei schwarzer Luft", als Qualität und Asset zu definieren.

Foto: thomas rottenberg

Auch weil da vieles, was man bei Tag gar nicht wahrnimmt, plötzlich eine eigene Identität und vielleicht sogar Seele bekommt. Oder sich in einen ganz anderen Kontext zur Umgebung – aber auch zu dem, was gerade in Ihrem Kopf oder Ihrem Leben passiert – setzt.

Ob es sich da um Zufallsblicke, "Gehsteigorakelsprüche", wilde Graffitis oder "offizielle" Straßenkunst handelt, spielt da keine Rolle. Wichtig ist nur, wie der jeweilige Eindruck in diesem Augenblick bei Ihnen ankommt.

Und was er auslöst.

Foto: thomas rottenberg

Dabei geht es dann nicht nur ums Set – also das "Bühnenbild" –, sondern auch ums Setting. Also darum, auf welche Art und Weise Sie es erleben: Es macht einen Unterschied, ob Sie hier gemütlich entlangflanieren oder mit 180 Puls, auf dem letzten Drücker und "voll im Laktat" unterwegs sind, während Sie die "Straßenzeitung" lesen. Oder von manchen Bildern geradezu angefallen werden.

Foto: thomas rottenberg

Doch gerade dann, wenn man nicht gut sieht, sieht man oft mehr. Ich zumindest – aber vielleicht sind Sie da ja ganz anders aufgestellt.

Nur: Wenn Sie es nie ausprobieren, wenn Sie, sobald es dunkel wird, höchstens noch die PHA rauf- und runterschnüren, werden Sie auch nie bemerken, dass die Müllverbrennung Spittelau das verhundertwasserte Missing Link zwischen Darth Vaders "Todesstern" und einer Christbaumkugel ist.

Foto: thomas rottenberg

Darum: Warten Sie, bis es dunkel ist – und gehen Sie dann raus. Laufen, nicht einfach spazieren.

Denn der Versuch, dem, was die Zeit vor dem Advent schon ohne Lockdown oft trist und elend macht, etwas Schönes abzugewinnen, lohnt sich.

Sogar wenn Sie feststellen, dass Ihnen diese Form des Laufens emotional gar nichts gibt, haben Sie das, was für Sie hoffentlich "Heimat" ist, dennoch auf eine neue, andere Art gesehen.

Und das ist immer ein Gewinn.

Foto: thomas rottenberg

Nachtrag:

Falls Sie eine der hier erwähnten Runden – egal zu welcher Tageszeit – nachlaufen wollen: Die beiden Longruns sind Variationen echter Wiener Klassiker. Sie finden Sie hier – einmal U4–U4 (komoot.de/tour/554636033), einmal "RULT" (also "Rund um den Lainzer Tiergarten") (komoot.de/tour/564479171). Die beiden Läufe im Dunkeln hier (komoot.de/tour/571622341) und hier (komoot.de/tour/573575879) – für den Lauf durch den Prater ist eine Stirnlampe auf den Passagen abseits der Hauptallee zumindest empfohlen.

Die Reise zum und die Teilnahme am Eilat Desert Marathon (marathonisrael.co.il/en/event/eilat-desert-marathon/) ist eine Einladung des Veranstalters und des Israel-Tourismus. (Tom Rottenberg, 23.11.2021)

Foto: thomas rottenberg