Polarisiert geht Südamerikas wohlhabendstes Land in einen weiteren Wahlkampf: Kurz vor Weihnachten, mitten im Sommer der Südhemisphäre also, werden die 19 Millionen Chileninnen und Chilenen einen neuen Präsidenten wählen – entweder einen Linken oder aber einen Rechtsextremen. Die Wahl macht deutlich, wie sehr das Land im Westen Südamerikas bis heute von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht wird.

Ersterer nämlich, der 35-jährige ehemalige linke Studierendenaktivist Gabriel Boric, will Chile 30 Jahre nach dem Ende der rechtsextremen Diktatur Augusto Pinochets wirtschaftspolitisch umkrempeln. Zu lange, findet der Sohn kroatisch-katalanischer Einwanderer, vergrößere das Erbe der turbokapitalistischen Regimes die soziale Ungleichheit im Land. Sein Rezept: ein Wohlfahrtsstaat, "in dem jeder die gleichen Rechte hat, unabhängig davon, wie viel Geld er im Portemonnaie hat".

Gabriel Boric will Chile sozialer machen.
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2011 begann Borics Aufstieg zum linken Hoffnungsträger. Zu Beginn der Zehnerjahre ging er wie so viele seiner Kommilitoninnen und Kommilitonen gegen die in seinen Augen horrenden Studiengebühren an Chiles Universitäten auf die Barrikaden. "Unsere Generation stieg 2011 in die Politik ein und schüttelte einige der Ängste aus der Zeit der Diktatur ab", erklärte er im Wahlkampf.

Lob für Maduro

2013 fiel aber ein Schatten auf die politischen Ambitionen des Junglinken, als er nach dem Tod des umstrittenen venezolanischen Linkspopulisten Hugo Chávez dessen autoritären Nachfolger Nicolás Maduro in einem Tweet als neuen Präsidenten Venezuelas feierte. Heute distanziert er sich ausdrücklich von den autoritären Herrschern auf dem Kontinent. Seine Gegnerinnen und Gegner gruben des alten Tweet freilich genüsslich im Wahlkampf wieder aus. 26 Prozent der Stimmen entfielen in der ersten Runde der Wahl am Sonntag auf ihn.

Ganz anders sein Gegner in der Stichwahl: José Antonio Kast, deutschstämmiger Sohn eines 1951 eingewanderten Wehrmachtsoffiziers und Bruder eines Pinochet-Ministers, hat während des Wahlkampfs eine erstaunliche ideologische Wendung vollzogen. Zwar galt der 55-jährige Rechtsanwalt schon zuvor als strikt konservativ, so richtig in Fahrt kam sein Wahlkampf aber erst, als er den Kampf gegen den angeblich von Boric geplanten Kommunismus in Chile für sich entdeckte. "Wir müssen uns jetzt entscheiden zwischen Demokratie und Kommunismus", sagte Kast am Wahlabend und behauptete, Boric mache gemeinsame Sache mit Terroristen.

Gegen Migranten und Abtreibungen

Der Vater von neun Kindern, der einer ultrakonservativen katholischen Splittergruppe angehört und Abtreibungen strikt ablehnt, hält die sozialen Spaltungen im Post-Pinochet-Chile anders als Boric nicht für ein Problem, im Gegenteil, er bekundet seinen Stolz auf die vergangenen dreißig Jahre. "Ultrarechts" sei er nicht, er sei schlicht rechts, sagt er – und "ohne Komplexe deswegen".

José Antonio Kast am Wahlabend in Las Condes, dem Nobelviertel der chilenischen Hauptstadt Santiago.
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Ohne ihn werde Chile zu einer Linksdiktatur nach kubanischem Strickmuster, warnte Kast das Wahlvolk, das noch im Frühling eine progressive neue Verfassung auf den Weg gebracht hatte. "Ich hoffe, dass ich als Kandidat des gesunden Menschenverstandes angesehen werde", sagte er.

Restriktive Pläne

All jenen Chileninnen und Chilenen, denen die geplante neue Verfassung, die jene aus der Zeit der Diktatur ersetzen soll, zu weit geht, verspricht Kast, seine Stimme dagegen zu erheben. An der Nordgrenze des Landes zu den weit ärmeren Nachbarn Peru und Bolivien will er einen Graben errichten, um die Grenze dichtzumachen, den indigenen Aufständischen im Süden will er das chilenische Militär entgegenhalten, die ohnehin sehr restriktiven Abtreibungsgesetze noch einmal verschärfen. 28 Prozent der Wahlberechtigten folgten diesmal.

Kasts Chancen, bei der Stichwahl am 19. Dezember mehr Stimmen der Mitte zu erringen als sein linker Kontrahent Boric, stehen gut. (flon, 23.11.2021)