Christof Metzger, Chefkurator der Albertina, bestätigt die Echtheit der bislang der Dürer-Forschung gänzlich unbekannten Studie und datiert sie um 1503.

Foto: FR Frank E. Graham / Agnews Gallery

Es ist nicht weniger als ein Jahrhundertfund, über den Chronisten des Kunstmarktes dieser Tage berichten: Ein auf einem Hausflohmarkt für 30 US-Dollar als Reproduktion von Albrecht Dürer ergattertes Blatt entpuppte sich als Original des Meisters. Der Wert der um 1503 datierten Zeichnung liegt bei kolportierten 50 Millionen US-Dollar.

Die Geschichte dazu nahm 2017 in einem Vorort von Boston, Massachusetts, ihren Anfang, als die Töchter eines verstorbenen Architekten namens Jean-Paul Carlhian einen Abverkauf seiner Habseligkeiten veranstalteten. Darunter befand sich auch das Werk, das sie für eine Reproduktion des 20. Jahrhunderts hielten.

Trotz des bekannten Monogramms "AD" hatten sie nie einen Gedanken an Authentizität verschwendet, da das innerhalb der Familie niemals Thema gewesen sei. Rückblickend hätten ihre europäischen Vorfahren wohl einen Hinweis liefern können, sie betrieben in Paris einst einen auf antike Möbel und dekorative Kunst spezialisierten Kunsthandel, Maison Carlhian.

Visite in Wien

Die Ahnungslosen traten das etwas vergilbte Blatt also für läppische 30 US-Dollar an einen Marchand-Amateur ab, der es sodann erfolglos weiterzuverkaufen versuchte – bis ihn zwei Jahre später ein interessierter Sammler und Geschäftsmann besuchte, der einen Tipp bekommen hatte: Clifford Schorer, Investor aus Boston und seit 2014 Mehrheitseigentümer des renommierten, 1817 gegründeten britischen Kunsthandels Agnew’s.

Es handelte sich dabei entweder um die größte Fälschung oder aber um ein unentdecktes Meisterwerk der Kunstgeschichte, resümiert Clifford Schorer den Moment, als er die Komposition in einem Esszimmer in Massachusetts erstmals in Augenschein nahm: Es zeigt die Heilige Jungfrau Maria auf einer grasbewachsenen Bank sitzend, das Christuskind auf ihrer rechten Schulter turnend, in doch recht ungewöhnlicher Rückenansicht mit blankem Popscherl.

Schorer einigte sich mit dem Besitzer auf eine Akontozahlung und begann mit Nachforschungen, die ihn im Herbst 2019 auch nach Wien führen sollten. Etwa zwei Wochen vor der Eröffnung der Dürer-Schau in der Albertina Mitte September 2019 habe er eine Mailanfrage mit Fotos erhalten, erinnert sich Christof Metzger, Chefkurator für deutsche und österreichische Kunst bis 1890. Sein erster Eindruck war ein guter, für ein endgültiges Urteil bedurfte er jedoch des Originals. Die Skepsis ist nachvollziehbar, denn in der Regel ist das Umgekehrte der Fall. Es kursieren Zeichnungen oder Aquarelle Dürers, bei denen es sich tatsächlich um Drucke aus dem 19. Jahrhundert oder noch jüngere Reproduktionen bis hin zu Kalenderblättern handelt.

Zweifelsfrei

Am 19. Oktober 2019 traf Clifford Schorer in Wien ein, und Christof Metzger nahm das Blatt im Studiensaal genauer unter die Lupe. Eher verstohlen, um keine unnötige Aufmerksamkeit bei anderen Besuchern zu erregen, erfolgte direkt in der Ausstellung ein Abgleich mit einem Werk aus dem Museumsbestand, mit Maria mit den vielen Tieren, einer um 1506 datierten aquarellierten Federzeichnung.

"Maria mit den vielen Tieren" (um 1506) titelt die aquarellierte Federzeichnung von Albrecht Dürer im Bestand der Albertina, zu der sich jetzt eine bislang unbekannte Vorstudie fand.
Foto: Albertina

Es liegt zweifelsfrei eine bislang unbekannte Vorstudie vor, lautete Dottore Metzgers finale Diagnose. Eine verwandte Komposition findet sich, signiert und mit 1503 datiert, im British Museum in London.

Die Entdeckung kann durchaus als Sensation gewertet werden. Damit, dass ein solches Werk sozusagen aus dem Nichts auftaucht, hätte unter all den mit Albrecht Dürer befassten Kunsthistorikern wohl keiner mehr gerechnet. An der Fachliteratur orientiert, fanden sich seit 1936 nur vier zuvor unbekannte Arbeiten Dürers, die im Werkverzeichnis von 1974 erfasst worden waren.

Die nun von Christof Metzger authentifizierte Studie wird auch in das von ihm derzeit in Bearbeitung befindliche Werkverzeichnis des Künstlers aufgenommen werden, das kommendes Jahr erscheinen soll. Seit Ende vergangener Woche steht sie im Mittelpunkt einer Ausstellung in der Agnew’s Gallery in London und damit offiziell auch zum Verkauf.

Provenienz nicht lückenlos

Insgesamt befinden sich nur 24 Arbeiten Dürers in Privatbesitz, der Rest in Museumsbeständen, wie Metzger betont. Das erklärt wohl auch den kolportierten Preis, der sich am vorläufigen Auktionsrekord für eine Altmeisterzeichnung orientiert, der 2009 mit 48 Millionen US-Dollar für eine Raffael-Studie erzielt wurde.

Dass die Rekonstruktion der Provenienz – trotz eingehender Recherchen von Experten und dem Agnew’s-Team – nicht lückenlos gelang, ist bei Zeichnungen und vor allem bei solchen dieses Alters nicht ungewöhnlich. Ob sie zu jenen Werken Albrecht Dürers gehörte, die Kaiser Rudolf II. einst 1588 erwarb, muss eine Mutmaßung bleiben.

Gut möglich, dass sie einst im Zuge der französischen Besatzung unter Napoleon geplündert wurde. Gesichert scheint, dass sie irgendwann im Besitz des französischen Grafen Hubert de Pourtalés landete, der 1919 nachweislich vier Dürer-Zeichnungen an die Maison Carhian verkaufte. (Olga Kronsteiner, 23.11.2021)