Klar, eine Impfpflicht braucht Vorbereitung. Da muss ein völlig neues Gesetz geschrieben werden, das auch vor dem Verfassungsgerichtshof hält. Denn im Gegensatz zu den Lockdowns, die dort schon angefochten wurden, wird diese Maßnahme vielleicht noch in Kraft sein, wenn das Höchstgericht entscheidet. Und dass sie angefochten werden wird, ist ob des Widerstands dagegen sehr wahrscheinlich.

Es ist also nur gut, dass die Regierung eine Vorlaufzeit für ein ausführliches Begutachtungsverfahren einplant, in dem Verfassungsexpertinnen und Legisten, die Opposition und die Zivilgesellschaft sich in Ruhe ansehen können, was da kommt. Freilich braucht auch die Ausarbeitung des Gesetzestextes an sich Zeit, immerhin gibt es keine Blaupausen: Die Pflicht zur Pockenimpfung von 1948 ist mit Sätzen wie "Unter Impfung (...) wird die Einverleibung von Pockenimpfstoff (...) durch eine zu diesem Zweck gesetzte Trennung des Zusammenhanges der Oberhaut verstanden" doch etwas in die Jahre gekommen. Und der Entwurf für die Impfpflicht für das Gesundheitspersonal – die soll ja schon im Dezember kommen – zielt nicht auf die Allgemeinheit ab; der kann nur ein Hinweis dafür sein, wie es gehen kann.

Die Impfpflicht braucht es nicht, wenn sich genug Menschen freiwillig impfen lassen.
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Nur: Warum beginnt diese Vorlaufzeit erst jetzt? Wie kann es sein, dass ein solider, fertig ausverhandelter Entwurf zu einer allgemeinen Impfpflicht nicht seit Monaten in der Schublade liegt? Ein Blick ins Archiv zeigt: Schon im Mai 2020 wurde im STANDARD zum ersten Mal ein Ethiker auf eine etwaige Corona-Impfpflicht angesprochen, im Juni meinte die Vorsitzende der Bioethikkommission Christiane Druml, unter bestimmten Umständen sei eine solche denkbar. Spätestens im Frühling 2021 haben die allermeisten Zeitungen Juristen und Juristinnen zitiert, die erklären, dass eine Lösung auch verfassungskonform sein kann.

Keine leere Drohung

Und doch wirkte die Regierung – in erster Linie Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) – beinahe von der eigenen Ankündigung überrascht, als sie vergangene Woche ihre Pläne präsentierte. Fast als hätte man sich bis zu dem Punkt die Lage schlicht schöngeredet, als hätte man die Augen zugemacht und geglaubt, wenn man nur fest daran denke, werde es schon keine Pflicht brauchen. Das Mantra der bisherigen Pandemiemanager saß zu tief, zu oft hatte Ex-Kanzler Sebastian Kurz, aber auch Ex-Gesundheitsminister Rudolf Anschober eine Impfpflicht ausgeschlossen. Auch Anschobers Nachfolger Wolfgang Mückstein meinte noch im Mai, Strafen für Ungeimpfte hätten "keinen Sinn".

Nun haben die Entscheider ihre Meinung geändert – auch wenn ihnen das nicht alle glauben. Prompt formierte sich in maßnahmenskeptischen Kreisen – dazu zählt auch die FPÖ – die Ansicht, die Ankündigung der Regierung sei nur eine leere Drohung, um die Leute freiwillig zur Nadel zu treiben. Kommen werde die Pflicht ohnehin nicht, meinen sie.

Diese Argumentation ist fehlerhaft: Freilich braucht es die Pflicht nicht mehr, wenn sich genug Menschen freiwillig impfen lassen. Ist die Pandemie im Griff, sind Zwangsmaßnahmen unverhältnismäßig. Aber dieses Rechtsprinzip macht aus der Ankündigung noch lange keine leere Drohung.

Und ist die Pandemie am 1. Februar noch nicht im Griff, darf die Regierung keinesfalls einen Rückzieher von der Impfpflicht machen. Damit würde sie das Vertrauen der Leute endgültig verspielen. (Gabriele Scherndl, 23.11.2021)